Toedliche Blumen
wissen.
Viktoria antwortete, dass sie im Solvägen vierunddreißig wohne. Hinten an dem neuen Wasserturm.
»Dann müssen wir wohl deine Eltern anrufen, dass sie dich abholen«, sagte die Frau und warf gleichzeitig einen Blick auf ihre Uhr.
Abholen, wenn das so leicht wäre. Die Frau hatte es sicher eilig, dachte Viktoria mit einem gewissen Unbehagen. Erwachsene haben es immer eilig. Jedenfalls behaupten sie das. Vielleicht sollte sie es doch mit dem Fahrrad probieren. Ihr ganzer Körper wehrte sich zwar dagegen, aber wenn es sein musste, dann musste es eben sein. Das sagte jedenfalls Mama, wenn Viktoria etwas erledigen sollte, wozu sie keine Lust hatte. Oder wenn Mama sich etwas nicht leisten konnte. Meistens ging es ums Geld. Beim Essen verhielt es sich ähnlich. Musste man das eklige Essen hinunterwürgen, dann kam man eben nicht drum herum! Das Leben sei, weiß Gott, kein Zuckerschlecken, sagte Mama immer. Je eher Viktoria das lerne, desto besser, fügte sie noch hinzu. Früher hätten die Kinder nämlich nur Grütze zu essen bekommen. Vorausgesetzt, sie bekamen überhaupt etwas und mussten nicht hungern, bis ihnen ganz schwindlig wurde und sie sich völlig geschwächt in einen tiefen Graben legten, um dort einsam und elendig zu sterben. Wieder andere mussten mehrere Kilometer barfuß durch den Schnee wandern, um zur Schule zu gelangen. Damals herrschten noch andere Zeiten, im Gegensatz zu heute, wo die Kinder über die Maßen verwöhnt waren.
An all das musste sie in ihrer Verzweiflung denken.
»Hast du ein Handy?«, wollte die Frau plötzlich wissen.
Viktoria schüttelte den Kopf. Mama hatte ihr keins kaufen wollen. Es sei zu teuer, damit zu telefonieren, argumentierte sie. Doch jetzt würde sie wohl einsehen müssen, wie unüberlegt ihre Entscheidung war. Viktoria wäre beinahe gestorben und besaß nicht mal ein Handy. Alle anderen hatten eins. Lina zwar nicht, aber dennoch. Sogar die meisten in ihrer Klasse besaßen eins.
»Dann musst du wohl mit mir kommen. Meine Werkstatt liegt ganz in der Nähe. Wir rufen von dort aus an«, sagte die Frau, klappte den Fahrradständer hoch und begann das Rad langsam auf den Gehweg zu schieben. Viktoria humpelte neben ihr her.
Der Kettenschutz schabte. Es war noch nicht dunkel geworden.
ZWEITES KAPITEL
K jell E. Johansson blinzelte im unbarmherzigen Schein der nackten Glühlampe. Gerade hatte er die Birne in die Porzellanfassung an der Wand über dem Badezimmerspiegel geschraubt. Die Splitter des kugelförmigen, milchglasfarbenen Schirms lagen bereits zusammengefegt in einer Papiertüte im Flur. Er war ihm aus den Händen geglitten, als er versuchte, ihn anzubringen, nachdem er einige Mühe investiert hatte, Staub, Fett und Fliegenschiss abzuwischen, die sich im Laufe der Jahre daran festgesetzt hatten. Unmittelbar vor dem Aufprall und dem Zersplittern des dicken Glases auf dem Waschbecken, das glücklicherweise hielt, hatte er sich einen kurzen unbeherrschten Aufschrei gestattet. Reflexartig hatte er die Gesichtsmuskeln angespannt, um zumindest die Augen vor den Glassplittern zu schützen. Danach hatte er sie ganz langsam wieder geöffnet, wie um sich gegen den Anblick der Verwüstung zu wehren. Stumm hatte er den Blick auf den Boden gerichtet, während seine Kiefermuskeln mahlten. Das Werk eines Augenblicks. Dennoch war es ihm gelungen, dem inneren Impuls standzuhalten, mit den Fäusten gegen die Wand zu trommeln, den Duschvorhang herunterzureißen oder mit aller Gewalt gegen den weißen Plastikwäschekorb zu treten, den seine Mutter ihm geschenkt hatte.
Während all dies passierte, hörte er ganz entfernt ein Klingeln, das er in seinem Gefühlschaos nicht richtig zu registrieren vermochte. Es kam von seiner eigenen Haustür. Im Nachhinein fragte er sich, wer es wohl gewesen sein mochte.
Kjell E. Johansson hatte schon immer ein hitziges Temperament besessen. Doch im Allgemeinen legte sich sein Unmut genauso schnell, wie er gekommen war. Als er sich also wieder beruhigt hatte, musste er feststellen, dass ihn wieder einmal seine Ungeduld gestraft hatte. Seine Unfähigkeit, die Dinge mit Besonnenheit und Ruhe anzugehen. Kurz gesagt, sich Zeit zu lassen. Hätte er sich die Zeit genommen, die Glaskugel mit einem Tuch trocken zu wischen, wäre sie ihm sicher nicht aus den Fingern gerutscht und ihm selbst das ganze Chaos einschließlich der Suche nach einem neuen Lampenschirm erspart geblieben.
An seinen nackten Füßen klebten jetzt insgesamt vier Pflaster, um zu
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