Toedliche Blumen
Es würde lustig werden, mit allen gemeinsam zu verreisen. Viktoria und Lina hatten schon Pläne geschmiedet. Doch der größte Teil des Geldes ging an bedürftige Kinder. Sie wussten nicht genau, um welche Kinder es sich handelte, fanden es aber gut, dass sie es bekamen. Vielleicht froren bedürftige Kinder ständig.
Plötzlich begann es auch noch zu schneien. Große Flocken fielen auf den Asphalt des Parkplatzes, wo sie langsam schmolzen.
Da am Freitagnachmittag alle ihre Großeinkäufe für das Wochenende erledigen mussten, waren trotz des Winterwetters ziemlich viele Menschen unterwegs. Ein günstigerer Platz zum Blumenverkaufen wäre wirklich kaum zu finden gewesen, dachte Viktoria.
Der Wind wurde noch kälter, auch wenn der Hagelschauer, der direkt nach dem Schneefall herunterging, wieder nachließ. Eine dünne Schicht fester weißer Körner bedeckte inzwischen den Parkplatz und schmolz sachte dahin. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden, und die Menschen schienen plötzlich gehetzt. Gerade so, als hätten sie keine Zeit, sich auch noch für Maiblumen zu interessieren.
»Sollen wir nicht lieber nach Hause fahren?«, murmelte Lina schließlich, obwohl sie längst nicht so dünn angezogen war wie Viktoria. Sie hatte ihre alte, dicke Winterjacke an, die so spannte, dass Lina darin wie eine Knackwurst aussah. Aber das würde ihr Viktoria nie sagen, denn damit hätte sie Lina traurig gemacht. Lina war nämlich nett. Und ein bisschen dick. Ziemlich dick, eigentlich.
»Ja«, piepste Viktoria. »Lass uns fahren!«
Sie war so steif gefroren, dass sie es nur mit Mühe schaffte, auf ihr Fahrrad zu steigen. Ihre Finger fühlten sich an wie Eiszapfen, die jeden Moment abbrechen konnten, und sie war kaum imstande, den Lenker zu halten. Lina ging es ähnlich.
An der Ampel hinter dem Vergnügungspark trennten sich ihre Wege. Viktoria hätte Lina zwar noch ein Stück begleiten können, doch auf einen Umweg hatte sie heute wirklich keine Lust. Und das verstand Lina, auch wenn sie beste Freundinnen waren und ansonsten so viel wie möglich zusammen unternahmen. Nicht bei diesem Wetter, wo beide auf dem kürzesten Weg nach Hause ins Warme wollten.
Viktoria trat so schnell sie konnte in die Pedale. Mama wartete nicht auf sie, und das war auch gut so. Sie würde ungefähr bis zweiundzwanzig Uhr, wenn Mama von der Arbeit nach Hause kommen würde, sturmfreie Bude haben. Mama hingegen ahnte nicht, dass Viktoria gern allein zu Hause war, und bekam jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihre Tochter zu lange sich selbst überließ. Viktoria spürte das und genoss es. Ein bisschen jedenfalls. Es bedeutete zumindest, dass nicht immer dieser dämliche Gunnar im Mittelpunkt stand. Wahrscheinlich zeigte sie Mama deshalb nicht offen, wie wenig es ihr ausmachte, allein zu Hause zu sein und zu malen oder vor dem Fernseher oder Computer zu sitzen. Oder auch zu telefonieren. Zum Glück musste sie in Zukunft nicht länger mit Gunnar allein sein, der immer so dicht neben ihr auf dem Sofa sitzen und sie tätscheln wollte, sodass sie sich nur mit Mühe entziehen konnte.
Sie verkroch sich hinter ihrem Fahrradlenker, um den Luftwiderstand zu verringern und noch schneller zu sein. Auf der rechten Seite passierte sie ein unbebautes Gebiet mit leeren Tennisplätzen hinter einem hohen Stacheldraht. Sie fuhr weiter über den schmalen Weg, der zum Fußballplatz führte. Von dort hörte sie Stimmen, sah geparkte Autos und konnte bald die Spieler auf dem Rasen erkennen. Sie hatten kurze Hosen an. Aber so wie sie herumrannten, froren sie wohl kaum, mutmaßte sie.
Der Nachhauseweg schien nicht enden zu wollen. So war es jedes Mal, aber heute empfand sie ihn als besonders lang. Der hellblaue Karton war ordentlich verschlossen. Weder die Maiblumen noch das Geld konnten herausfallen. Mit der linken Hand presste sie die Schachtel an sich, während sie mit der rechten den Lenker hielt. Das Ganze war natürlich ein bisschen unbequem, und sie wäre gern zügiger gefahren, aber das wollte sie nicht riskieren, weil sie nur mit einer Hand steuerte. Obgleich sie sogar freihändig fahren konnte. Aber jetzt, wo sie es eilig hatte und so dichter Verkehr herrschte – nicht so wie zu Hause in ihrer Straße –, musste sie besonders vorsichtig sein.
Und plötzlich passierte es. Direkt neben sich hörte sie ein furchtbares Donnern. Weder sah sie etwas, noch konnte sie reagieren. Ein großes schwarzes Motorrad, das wie aus dem Nichts gekommen war, hatte
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