Toedliche Hoffnung
ich nicht, was ich hier überhaupt wollte. Ein Haus mehr oder weniger spielte keine Rolle. Diese Männer würden genauso wenig mit mir sprechen wie ihr Hund oder das Gebäude.
»Es tut mir leid, ich bin doch nur eine amerikanische Touristin«, sagte ich und bewegte mich zu dem Weg, der von dort wegführte, bemüht, nicht zu schnell zu laufen. Kaum war ich um die Ecke und der Bulldozer außer Sichtweite, rannte ich los, rannte undrannte und wurde erst langsamer, als ich eine kleine Frau mit einem schwarzen Kopftuch sah, die zwei Einkaufstüten schleppte.
»Salif war eine Art Anführer für sie«, sagte Arnaud Rachid leise und warf einen Blick über die Schulter, während uns die Rolltreppe langsam nach unten beförderte. »Es war seine Idee, abzuhauen.«
»Und er war der einzige Überlebende?«
Arnaud nickte.
»Ich hatte ihm ein Handy besorgt. Er konnte sich aufs Dach retten. Von dort aus rief er Patrick an. Er brach sich das Bein, als er auf das nächste Haus heruntersprang.«
Wir erreichten das Untergeschoss und setzten unseren Weg durch eine finstere Einkaufsgalerie mit grauen Gängen und niedrigen Decken fort. Ich versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass wir auf dem Weg zur Métro waren. Hinter einem Pfeiler drängte sich eine kleine Gruppe Menschen um drei andere. Ich nahm ein leises Gemurmel wahr, beobachtete, wie Waren den Besitzer wechselten.
»Ein kuscheliges Eckchen«, bemerkte ich und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Handels, der im Schatten stattfand.
»Diese Hallen sind schon seit dem Mittelalter ein Handelsplatz«, erklärte Arnaud. »Hier kriegst du alles, Gras, Heroin, Pässe ...«
Ich rang nach Luft, als wir die Sperre passierten, erkannte den verkohlten Geruch und den warmen Luftzug wieder.
»Hierher kommt man also, wenn man einen falschen Pass braucht?«, fragte ich, um mich abzulenken.
»Mittlerweile ist es nicht mehr so einfach, Pässe zu fälschen.« Arnaud steuerte auf einen Tunnel zu. »Aber es sind Zehntausende von echten im Umlauf, vielleicht sogar Hunderttausende. Man findet immer jemanden, der einem ähnlich sieht.«
»Sind sie gestohlen?«
»Teilweise. Manche verkaufen ihren Pass auch, dann melden sie ihn gestohlen und bekommen einen neuen.«
»Den sie ebenfalls verkaufen«, sagte ich. »Klingt nach einer lukrativen Geschäftsidee.«
»Häufig werden die Pässe der Menschen, die ins Land geschleust werden, von den Schleusern beschlagnahmt. Dann wird der Pass weiterverkauft, und so können zehn bis zwanzig Immigranten auf unterschiedlichem Wege eingeschleust werden, mit ein und demselben Pass.«
Erst als wir den Waggon betreten hatten, die Türen schlossen, das Signal durch die Lautsprecher erklang und der Wagen anfuhr, erzählte er mir, wohin wir fuhren.
»Wir steigen am Gare de l’Est um«, erklärte er und zeigte auf die Linie mit allen Stationen, die auf einem Schild über dem Fenster dargestellt war. Draußen flimmerten Graffiti vorbei, Tags und Parolen an der Tunnelwand. »Dann nehmen wir die Linie 5 nach Bobigny.«
Er blickte mich an.
»Ich weiß nicht, was du dir von der Sache erwartest. Patrick hat Salif nicht mehr getroffen, seit wir ein neues Versteck fanden. Er weiß nichts.«
Ich antwortete nicht, denn ich hatte keine Ahnung, was ich mir erwartete. Nur, dass ich ihn treffen musste. Patrick war mitten in der Nacht losgestürzt, um diesen Mann zu retten. Vielleicht konnte er im Gegenzug mich retten. Oder so ähnlich.
Nachdem wir umgestiegen waren, verlief das Gleis wieder oberirdisch, und das Atmen fiel mir leichter. Als wir an einer Station hielten, die den absurden Namen Stalingrad trug, musste ich loslachen. Wahrscheinlich lag es an der Anspannung.
»Was ist denn daran jetzt so lustig?«, fragte Arnaud beleidigt. Er war gerade mitten in einem Vortrag darüber gewesen, dass die europäische Wirtschaft ohne Migranten zusammenbrechen würde.
»Entschuldige«, sagte ich und zeigte auf den Namen der Haltestelle. »Ich dachte nur, Stalingrad gäbe es nicht mehr. Ich war der Meinung, es wäre von der Landkarte verschwunden.«
»Es soll wohl an die Schlacht von Stalingrad erinnern«, sagte Arnaud. »Es wäre doch viel merkwürdiger, wenn sie den Namen einfach ändern würden.« Er schwieg und sah mich interessiert an. »Kommst du von da?«
»Von wo? Aus Stalingrad, meinst du? Nein, wohl kaum.«
»Dein Name klingt russisch. Sarkanova.«
»Herrgott, warum seid ihr nur alle so sehr davon besessen, zu erfahren, wo man herkommt?«
Meine Alarmglocken
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