Toedliche Luegen
Kunstwerk auf ihrem Schoß. Bei Germeaux’ Aufzählung all jener Gerichte, die ihr ausnahmslos unbekannt waren, beglückwünschte sie sich zu dieser weisen Entscheidung, mit der ihr der Franzose ganz unauffällig eine peinliche Situation erspart hatte. Das wäre voll in die Hose gegangen!
Der Kellner entfernte sich gemessenen Schrittes und Beate wagte einen scheuen Blick zu Germeaux. „Danke. Das war nett, mir aus der Patsche zu helfen.“
Germeaux lachte unbekümmert. „Sie können getrost etwas lauter reden. Ich verspreche Ihnen, es wird Sie niemand am Nebentisch hören oder gar Anstoß an unserer Unterhaltung nehmen.“
„Mmmh.“
Das Schweigen dehnte sich plötzlich, wurde schwer und drückend, bis sich der Franzose einen Ruck gab, um es zu beenden. „Haben Sie gewusst, dass der bekannteste deutsche Modeschöpfer in diesem Haus lebenslanges Wohnrecht genießt?“
„Oh“, entgegnete Beate mit ähnlichem Einfallsreichtum. „Wie interessant. Wer das wohl sein mag?“ Die Stoffserviette in ihren feuchten Händen wurde einem grauen Tennisball immer ähnlicher.
Unauffällig blickte sich Pierre Germeaux nach dem Kellner um und räusperte sich. „Er hat die gesamte Einrichtung entworfen. Sogar die Speisekarte oder das hier.“ Damit deutete er auf den protzigen Anhänger seines Zimmerschlüssels.
„Tja, das soll’ s geben. Universal-Genies oder so was in der Art.“
Beate atmete auf, als der Sommelier an ihren Tisch trat. Sie beobachtete Pierre Germeaux, der an der Probe in seinem Glas schnupperte, fachmännisch die Farbe prüfte und sich den Wein schließlich mit Kennermiene auf der Zunge zergehen ließ. Dann nickte er zufrieden dem befrackten Weißhaarigen zu, der daraufhin Beates Glas füllte. Der Franzose schien sich bei dieser Tätigkeit wesentlich sicherer zu fühlen als bei dem mühevollen Versuch, Konversation mit einer kleinen Studentin in teurer Verkleidung zu machen, und Beate wäre vor Scham am liebsten in einer Bodenritze verschwunden.
„ A votre santé “, sagte er mit erhobenem Glas und blickte Beate dabei in die smaragdgrünen Augen. „Es ist … ja, es ist beinahe ein Wunder, wie ähnlich Sie Ihrer Mutter sehen. Lediglich die Größe scheinen Sie von …“
Bildete sie sich das bloß ein oder reckte er sich bei diesen Worten allen Ernstes und straffte die breiten Schultern? Mit einer eleganten Handbewegung strich er sich über seinen Oberlippenbart, ehe er den Satz beendete.
„ … von Ihrem Vater geerbt zu haben.“
„Sie kennen ihn?“
Er tat, als hätte er ihren Einwurf nicht gehört, und fuhr fort: „Ich kann es noch immer kaum glauben, dass wir uns nach so langer Zeit endlich gegenüber sitzen. Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, eines Tages dieses Vergnügen haben zu können.“
Beate stieß einen unsicheren Lacher aus und hielt sich die Hand vor den Mund. „Was soll ich erst sagen , wie unglaublich ich diese Situation finde? Dabei hatte ich im Gegensatz zu Ihnen nicht einmal die Möglichkeit, mich in irgendeiner Weise darauf vorzubereiten.“
„Das ist auch nicht nötig gewesen. Seien Sie versichert, Beate, Sie sehen bezaubernd aus.“
Jajaja, du wiederholst dich. Noch ein Wort und ich komme in Versu chung, alles zu glauben, dachte sie und wechselte rasch das Thema. „Muss ich jetzt eigentlich bis nach dem Essen … bis nach dem Diner warten, dass Sie mir erklären, was ich hier verloren habe?“
„Nicht verloren, Beate, sondern gefunden.“ Pierre Germeaux hielt inne, als der Kellner an ihren Tisch zurückkam und das Entrée servierte.
„ Mon dieu , ich werde hier verhungern!“, raunte Beate entsetzt beim Blick auf eine rosa und grün schimmernde Creme, die von einer farblich passenden roten Soße umrahmt und einem frischen Blättchen Minze geziert wurde. Sie schluckte schwer an dem größer werdenden Kloß in ihrem Hals und rechnete hektisch sämtliche Wahrscheinlichkeiten durch, ausgerechnet an diesem Ort zu finden, was sie jemals verloren hatte.
„ Ich will bestimmt nicht wissen, was das ist. Sicher wäre es einfacher, jemanden umzubringen als auf diesem Umweg.“ Sie zupfte sich eine verirrte Strähne aus der Stirn und musterte voll Skepsis die Vorspeise. „Solange Sie mir nicht verraten, warum ich hier sitze, kriege ich sowieso keinen Bissen runter.“
Er nickte bedächtig , lehnte sich mit einem milden Lächeln auf seinem Polsterstuhl zurück und richtete seine schockierend blauen Augen auf Beate.
D ie plötzlich das dringende Bedürfnis
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