Tödliche Märchen
Nacht?«
»Ja, er wollte zum Grab seines Vaters.« Sie hob die Arme und ließ sie wieder sinken. »Eigentlich ein Wahnsinn, aber ich kann nichts daran ändern, sorry.«
»Auch für eine Frau, sogar für eine Polizistin ist es gefährlich, des Nachts über den Friedhof zu gehen, Mrs. Finley. Was halten Sie davon, wenn wir Sie begleiten?«
»Können Sie das denn?«
Der Sprecher winkte ab. »Klar, in dieser Nacht ist es sehr ruhig. Den dunklen Gestalten ist es wohl zu kühl. Wir haben noch keinen Einsatz fahren müssen.«
»Das wäre natürlich toll — danke.«
»Okay, für eine Kollegin in Not springen wir sogar über unseren eigenen Schatten.«
Zwei Minuten später saßen sie im Streifenwagen. »Was wollen Sie denn mit ihrem Sohn anstellen? Ihm den Hintern versohlen?«
Ruth schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« Sie schaute aus dem Fenster an den dunklen Hausfronten entlang. »Er ist ja nicht grundlos dorthin gegangen.«
»Hat man ihn gelockt?«
»So ähnlich. Aber die Geschichte klingt unglaublich. Ich traue mich kaum, sie Ihnen zu erzählen.«
»Versuchen Sie es trotzdem.«
»Da war eine Frau. Grandma Gardener.«
Der Kollege schaltete sofort. »Die Fernseh-Märchentante?«
»Genau die.«
»Ach je.« Der Beamte schüttelte den Kopf. »So etwas ist doch nicht drin, Mrs. Finley.«
»Doch, das ist es. Jason hat steif und fest behauptet, mit Grandma Gardner auf dem Friedhof und am Grab seines Vaters eine Verabredung zu haben.«
»Glaubten Sie das?«
»Um Himmels willen, nein, aber Sie wissen ja selbst, wie das ist. Die Kinder kommen dann auf die unmöglichsten Ideen, um das Haus zu verlassen. Wie eben bei mir.«
Die Kollegen lachten. »Das haben wir gesehen.«
Der Fahrer meldete sich. »Wir sind da.«
Sie rollten über den Platz vor dem Haupteingang. Das große Tor war verschlossen, aber über die Seitenpforte konnten sie klettern.
Die größten Londoner Friedhöfe besaßen diese Tore nicht mehr. Der hier gehörte zu den kleineren, er war vor allen Dingen überschaubar. Man konnte jedes Grab ziemlich schnell erreichen, da genügend Wege angelegt worden waren.
Sie stiegen aus. Die Scheinwerfer waren verloschen. Es wurde stockdunkel. Die Beamten hatten Taschenlampen mitgenommen. Ihre Lichtkegel strichen über die Seitenpforte. Auch sie war verschlossen, ließ sich aber auch von einer Frau überklettern, und Ruth war als Polizistin durchtrainiert.
Als sie zu Boden sprang, nickten ihr die Kollegen zu. »So«, sagte einer, »jetzt brauchen wir nur noch das Grab zu finden. Dann haben wir auch Ihren Sohn.«
»Hoffentlich«, flüsterte Ruth und übernahm die Führung. Sie hatte es plötzlich sehr eilig…
***
Jason Finley hatte das Gefühl, als bestünde der Grabstein hinter ihm aus zahlreichen, klammerartigen Händen, die ihn einfach nicht loslassen wollten, denn er schaffte es nicht, sich vom Fleck zu lösen. Die Angst bannte ihn!
Furcht vor einer Person, die sich so schrecklich verändert hatte. Unter dem Kopftuch leuchtete in einem fahlen Grün das Skelettgesicht der Märchentante.
Sie wirkte furchterregender als die Gestalten, über die sie in ihren Geschichten schrieb. Sehr böse und auch mordlüstern.
»Nun, mein Junge, was sagst du dazu?« Ihre Stimme hatte einen hohlen Klang bekommen.
Jason atmete schwer. Er mußte einige Male Luft holen und auch schlucken, bevor er überhaupt eine Frage stellen konnte. »Wer… wer bist du denn?« flüsterte er.
»Grandma Gardener!«
»Nein, nein, das bist du nicht. Du… du bist der Tod!« Das letzte Wort rutschte ihm einfach so heraus, und es schüttelte ihn, als wäre er umklammert worden.
»Der Tod ist unter dir!« bekam er zur Antwort. »Aber es gibt einen Tod, der lebt. Hast du nicht mit deinem Vater sprechen wollen? Ja, du hast es mir deutlich genug gesagt. Aber nichts ist umsonst. Um mit den Toten reden zu können, muß man einen bestimmten Preis bezahlen. Auch du, mein Junge…«
»Was denn?«
Der unheimliche Skelettschädel bewegte sich von einer Seite zur anderen. »Kannst du dir das nicht vorstellen?«
»Nein, wieso…?«
»Blut, mein Kleiner!« zischte die unheimliche Person. »Dein Blut. Das Blut ist wichtig. Es hat auch in den Märchen stets eine Rolle gespielt. Erinnere dich an Dornröschen. Es stach sich in den Finger, und ein Blutstropfen quoll aus der Wunde. Danach fiel das Schloß und alle, die in ihm waren, in einen hundertjährigen Schlaf. Erst der Prinz konnte Dornröschen wachküssen.«
»Aber ich bin
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