Tödliche Märchen
Augenblick auf ihn zuspringen.
Sie hatte den Kopf vorgestreckt, hob ihn nun langsam an, und zum erstenmal schaute Jason Finley richtig in das Gesicht der vom Bildschirm bekannten Märchentante. Es hatte sich auf erschreckende Art und Weise verändert!
Von der Haut war nichts mehr zu sehen. Unterhalb der weißgrauen Haare und des Kopftuchs zeichnete sich etwas Fürchterliches ab. Eine grünlich schimmernde Skelettfratze!
***
Ruth Finley war verärgert, auch zornig, sie spürte gleichzeitig den dumpfen Druck der Angst.
Sie hatte nicht um sich selbst Angst, ihr ging es um Jason, ihren Sohn. Er war derjenige, der plötzlich durchdrehte, war mitten in der Nacht weggelaufen, um das Grab seines Vaters zu besuchen. Sie knallte das Fenster wieder zu, lief zur Tür und warf sich einige Male dagegen. Ohne Erfolg. Dafür bekam sie eine schmerzende Schulter, wo sich im Laufe der nächsten Stunden sicherlich ein blauer Fleck bilden würde.
Was war dem Jungen nur eingefallen?
Sie konnte es nicht begreifen, sie schüttelte den Kopf und merkte kaum, daß sie weinte.
Dann ging sie zum Bett, setzte sich darauf und dachte darüber nach, was sie noch unternehmen konnte. Aus der Wohnung kam sie nicht so einfach raus. Sie hätte höchstens aus dem Fenster klettern können, aber das würde sie auch kaum schaffen.
Da fiel ihr Blick auf das Telefon. Ruth richtete sich kerzengerade auf und schlug gegen ihre Stirn. Himmel, warum hatte sie daran nicht schon früher gedacht? Natürlich, der Apparat. Er war schließlich die Verbindung zur Außenwelt. Da konnte sie ihre Kollegen anrufen. Die Nummer des nächsten Reviers kannte sie auswendig. Auch sie war dort bekannt, und als der Beamte der Nachtschicht ihre Stimme hörte, fing er leise an zu lachen.
»Sie, Mrs. Finley?«
»Ja, ich. Und ich sitze verdammt in der Klemme.« Der Kollege wurde ernst. »All right, worum geht's?«
»Man hat mich eingesperrt.«
»Wie?«
»Ja, hören Sie zu.« Ruth erklärte ihre Lage, und der Polizist erklärte sich bereit, mit einigen seiner Kollegen zu kommen, um die Tür aufzubrechen.
»Können Sie dann den Schlüssel aus dem Fenster werfen?«
»Nein, das geht nicht. Er befindet sich nicht hier im Schlafzimmer. Bitte, beeilen Sie sich. Es geht um meinen Sohn.«
»Wir sind schon unterwegs, Mrs. Finley.«
Erleichtert legte Ruth auf. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, stand auf und spürte das Zittern in den Knien. Mit jeder Minute, die verrann, wuchs die Angst um ihren Sohn. Hoffentlich hatte er sich da nicht in Dinge hineingeritten, die er später nicht mehr überblicken konnte.
Ruth zog sich um und wartete.
Der Druck im Magen nahm zu. Gern hätte sie jetzt eine Zigarette geraucht, aber die Packung lag im Wohnraum. Angezogen trat sie ans Fenster und öffnete es. Ruth wollte sehen, wenn die alarmierten Kollegen eintrafen. Noch war die Straße leer. Sie schaute nur auf die Dächer der an den Gehsteigen geparkten Wagen.
Ruth wußte, daß die Kollegen nicht mit großem Theater anfahren würden. Der Wind streichelte ihr Gesicht. Manchmal rieselte auch Sprüh aus den Wolken. Es war ein widerliches Wetter. Typisch Spätherbst oder Winteranfang.
Der Wagen kam.
Sie sah die gelben Glotzaugen der Scheinwerfer und den hellen Teppich, der sich auf der Fahrbahn verlor. Vor dem Haus fanden die Kollegen keinen Parkplatz, deshalb stieg ei ner aus, die anderen suchten weiter. Der Beamte, der ausgestiegen war, schaute am Haus hoch und sah die winkende Ruth Finley im Fenster.
Jason hatte das Haus als letzter verlassen und es nicht für nötig gehalten, die Haustür zu schließen. Das gereichte den Beamten zum Vorteil. Auch der zweite kam und verschwand durch den Eingang. Für Ruth begann wieder die Warterei. Die Männer mußten das Schloß der Wohnungstür aufbrechen. Es war nicht einfach. Minuten verrannen, in denen Ruth immer nervöser wurde. Schließlich hörte sie die Stimmen der Männer in der Wohnung, dann drehte sich außen der Schlüssel im Schloß der Schlafzimmertür, und Ruth konnte endlich aufatmen.
»Zum Glück hat ihr Sohn den Schlüssel nicht mitgenommen, Mrs. Finley. Sonst hätten wir diese Tür noch aufbrechen müssen.«
»Ja, da sagen Sie etwas.« Die Erleichterung war ihr anzumerken. Sie strich mit fünf Fingern durch ihre Haarmähne und hörte die nächste Frage der Männer.
»Und jetzt?«
»Muß ich zum Friedhof.«
Die Beamten schauten sich an. »Wieso das?«
»Da ist mein Sohn hin.«
»Mitten in der
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