Tödliche Märchen
Märchentante. So wird sie doch wohl genannt.«
»Aber sie hat mir gesagt, daß ich zum Friedhof gehen soll.«
»Wie schön. Während der Märchensendung.«
»Nein.«
Ruth wurde fast wahnsinnig.
»Wann hat sie dir es dann gesagt?« Sie räusperte sich. »Ist sie zu dir gekommen und hat dich angesprochen? Dich persönlich?«
»Nein, Ma.«
»Wie denn?«
»Ich habe eine Video-Kassette, weißt du. Die gibt es auch. Da hat sie mir gesagt, daß ich zum Friedhof kommen soll. Um Punkt Mitternacht. Sie würde mir einiges zeigen, auch meinen Daddy.«
Ruth merkte allmählich, daß die Nacht doch wohl kürzer werden würde. Ihr Sohn hatte mit einem erschreckenden Ernst gesprochen. Das konnte er sich nicht aus den Fingern gesaugt haben. »Wenn es von Grandma Gardener auch Kassetten gibt, dann möchte ich sie mir ansehen. Komm.«
»Das geht nicht, Muni.«
Ruth lächelte breit. »Aha, der Herr Sohn macht einen Rückzieher. Und weshalb geht es nicht?«
»Weil ich die Kassette nicht mehr habe. Ich gab sie wieder zurück.«
»Wer hat sie denn jetzt?«
»Einer aus meiner Klasse, glaube ich.«
»Und den können wir heute nacht ja wohl nicht anrufen — oder?«
»Nein.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Okay, wir haben lange genug diskutiert. Du wirst jetzt wieder ins Bett gehen. Aber nicht in deines, sondern in Dads. Das heißt…«
»Ich schlafe neben dir.«
»Sehr richtig, mein Sohn.« Ruth hatte Nägel mit Köpfen gemacht und hielt ihm die Tür auf. »Komm schon, du darfst deine Sachen auch bei mir ausziehen.«
Jason hob die Schulter und beugte den Kopf vor. Wie ein ertappter Sünder setzte er sich in Bewegung und schlich an seiner Mutter vorbei. Das schlechte Gewissen war ihm anzusehen.
Ruth Finley schüttelte den Kopf. Was so plötzlich in ihren Jungen gefahren war, dafür hatte sie keine Erklärung. So hatte er noch nie reagiert.
Sie schloß die Tür und wußte nicht, ob sie wütend sein oder das ganze auf die leichte Schulter nehmen sollte. Ruth trat an das zweite Bett und schüttelte das Kissen auf. Auch das Oberbett hob sie an. »Du kannst dich schon ausziehen, Jason.«
Durch das breite Bett war ihr die Sicht auf Jason und die Tür versperrt. Ruth Finley wurde erst aufmerksam, als sie einen Knall vernahm. Es hatte sich angehört, als wäre eine Tür hart ins Schloß gefallen. Sie ließ das Oberbett fallen und vernahm auch ein bekanntes Geräusch. So drehte sich ein Schlüssel im Schloß.
Ruth hatte es plötzlich eilig. Sie lief über das Bett, sprang auf die Tür zu, rappelte an der Klinke und mußte feststellen, daß ihr eigener Sohn sie eingeschlossen hatte.
Das packte sie einfach nicht. »Jason!« rief sie. »Bist du denn wahnsinnig? Bist du verrückt? Schließ sofort die Tür wieder auf, oder es passiert etwas.«
Jason gab Antwort. Die Stimme hörte sich schon weiter entfernt an, er stand nicht mehr an der Tür. »Nein, Mummy, nein. Ich schließe nicht auf. Ich gehe jetzt. Daddy und Grandma Gardener warten…«
Der. Junge ließ sich zu nichts mehr hinreißen. Er mußte auch die Wohnung leise verlassen haben, denn als Ruth das Fenster des dritten Stocks öffnete, sah sie Jason bereits unten auf der Straße. Er hatte seine Schuhe mitgenommen und band sich gerade die Schnürsenkel.
»Jason!« Ruths Ruf hallte über die nachtdunkle Straße. »Komm sofort zurück…«
Jason Finley wollte nicht hören. Er rannte einfach los und verschwand in der Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzuschauen. Zurück ließ er eine ratlose und auch ängstliche Mutter…
***
Sie hatte nicht gesehen, daß der Junge weinte. Er wußte, daß er seiner Mutter sehr weh getan hatte, aber es ging einfach nicht anders. Er mußte es tun.
Er hörte ihren Ruf und hätte fast noch gestoppt, aber er blieb trotzdem nicht stehen, obwohl er wußte, daß seine Mutter am Fenster stand und ihm nachschaute.
Jason hastete geduckt über den Gehsteig. Die weichen Sohlen der Turnschuhe machten seine Schritte leise. Zudem war die Gegend menschenleer. Wer hier wohnte, der mußte am Morgen früh raus. Da feierte man nicht bis in die Nacht hinein, das war eben keine Jet-Set-Gesellschaft. Jason hatte insofern Glück, daß er bis zum Friedhof nicht weit laufen mußte. Er kannte auch eine Abkürzung. An der linken Seite tauchte der Eisenzaun auf. Seine Stäbe glänzten ebenso naß wie das Pflaster. Die Höhe bereitete dem Jungen keine Schwierigkeiten. Er kletterte rasch über den Zaun und landete dahinter auf dem weichen Boden eines
Weitere Kostenlose Bücher