Tödliche Märchen
Gesicht und hatte das Gefühl, als würde dieser ihn mit zahlreichen Fingerkuppen streicheln. Sein Innerstes war aufgewühlt. Er sah plötzlich seinen Vater wieder vor sich, wie er lachte, mit ihm Fußball gespielt hatte, seine Hausaufgaben nachsah, manchmal schimpfte, wie sie gemeinsam ins Kino gingen und später über die Filme sprachen. Wie sie auf dem Tretboot saßen oder gesegelt waren. Dann wechselte das Bild. Ein Auto, rauchend, nicht mehr als ein Klumpen Blech, der vor einer Hauswand klebte. Morton Finley hatte einem anderen Wagen ausweichen wollen und war auf nasser Straße so gerutscht, daß er frontal gegen eine Wand gefahren war.
Zurück blieb dieser Klumpen Blech und darin, so gut wie nicht zu erkennen, sein Vater. Die Männer vom Rettungsdienst hatten ihn herausschweißen müssen.
Er hatte nicht mehr gelebt. Vorbei war diese schöne Zeit, und Jason hatte tagelang fast nur geweint. Morton Finleys Tod war für den Jungen etwas Furchtbares gewesen. »Hast du mich nicht gehört?« vernahm er die flüsternde Stimme der Märchentante.
»Doch, Grandma, das habe ich.«
»Und du sagst nichts dazu? Freust du dich denn nicht darüber?«
Jason hob die Schultern. »Ich weiß es nicht genau, ich weiß es nicht. Aber kannst du das denn?«
»Ho, mein Junge, was meinst du, was eine alte Frau wie ich alles kann.«
Sie breitete die Arme aus. »Ich habe viel, sehr viel in meinem Leben gesehen. Es ist mir auch gelungen, hinter die Dinge zu schauen, verstehst du?«
»Nein.«
»Das ist ganz einfach. Es gibt vieles im Leben. Du siehst, du hörst, du riechst, aber das ist nur vordergründig. Andere Sachen sieht man eben nicht, obwohl sie existieren, und es gibt nur wenige, denen es vergönnt ist, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Diese Personen nennt man die Menschen mit dem dritten Auge. Sie haben ein drittes Auge, das aber nicht sichtbar ist. Es hat sich versteckt, es ist ihr Gefühl, ihr Geist. Sie wissen Bescheid, denn sie treten mit Personen in Kontakt, die man als feinstofflich bezeichnet. Sie können in das Reich der Toten hineinschauen, ihr Blick richtet sich ins Jenseits. Sie erfahren viel und sind auch in der Lage, es weiterzugeben. Aber sie reden nicht mit jedem drüber, verstehst du?«
»Nein…«
Grandma Gardener lachte leise. Und flüsternd sprach sie danach weiter.
»Dann will ich es dir deutlicher sagen. Es gibt Menschen, die mit den Toten sprechen können. Und dazu gehöre ich!«
Jason bekam plötzlich Angst. Obwohl sich die Frau äußerlich nicht verändert hatte, war sie doch eine andere geworden. Von ihr ging etwas aus, das den Jungen frösteln ließ. Eine Kälte, die er nicht begriff. Vielleicht die Kälte des Todes.
»Komm ruhig näher, mein Kleiner. Deshalb haben wir uns hier getroffen. Wir haben nicht viel Zeit. Die sechzig Minuten sind gleich um. Ich sagte dir doch, daß ich mit den Toten sprechen kann, und ich werde es dir beweisen. Du kannst deinen Vater hören. Seine Stimme wird aus dem Grab erklingen…«
Jason schüttelte hastig den Kopf. »Das… das geht doch nicht. Wer tot ist, der ist tot. Man kann nicht mehr mit ihm sprechen.«
»Ich ja«, erwiderte die alte Frau bestimmt.
Der Junge bekam plötzlich Angst. Jedes Kind besitzt einen gewissen Schutz-und Abwehrmechanismus, und der schaltete sich bei ihm ein.
»Nein, das will ich nicht. Mein Vater ist tot, ich will nicht mehr mit ihm sprechen. Ich will nach Hause. Sofort!«
Er wollte auch wegrennen, und Grandma Gardener sah, daß ihr die Felle wegschwammen. Deshalb handelte sie sofort. Jason wurde überrascht. Sie blieb nicht mehr auf dem weichen Untergrund des Grabs stehen, sondern ging blitzschnell vor. Jason wollte sich umdrehen, er schaffte es nur zur Hälfte.
Da hatte die Frau zugegriffen, und sie bewies wieder einmal, welch eine Kraft in ihrem Körper steckte. Ohne daß sich Jason dagegen wehren konnte, wirbelte sie ihn um die eigene Achse und griff dann mit beiden Händen zu, so daß sich der Junge in ihrem Griff befand. Sie stand jetzt hinter ihm. Jason war zwar für sein Alter relativ groß, aber Grandma Gardener überragte ihn dennoch.
»Du bist zu mir gekommen, mein Junge, um von mir etwas zu lernen. Jetzt bleibst du auch hier.«
Bevor er eine Antwort geben konnte, hatte sie ihn bereits herumgedreht und nach vorn geschleudert, so daß er mit dem Rücken gegen den hohen Grabstein prallte.
Ein böser Schmerz zuckte durch seine Schultern, und Grandma Gardener stand vor ihm, als würde sie im nächsten
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