Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
erlebt. In ihrem Arbeitsalltag sei sie mit sehr wenigen Männern in Kontakt gekommen. Sie wisse nicht, aus welchem Grund die junge Frau sich das Leben genommen haben sollte. Ihre Verhältnisse seien geordnet gewesen.
Mr Harley Brown, der im Anschluss daran auf die oben genannte Todesursache erkannte, schloss mit den Worten, dass kein Zweifel daran bestehe, dass diese unglückliche junge Frau von einem skrupellosen Mann verraten worden sei, der nicht den Mut aufbringe, vorzutreten und sein Verhalten zu bekennen. Er hätte gern herausgefunden, wer dieser sei, auch wenn die öffentliche Schande gar nicht Strafe genug sein könne für so jemanden.«
Marjorie ließ die Zeitung auf den Schoß sinken, als sie den Bericht gelesen hatte. Die kurzen, kargen Sätze, die der Reporter durch die bemühte Wiedergabe im Irrealis noch weiter entstellt hatte, vermittelten keinen klaren Eindruck von den Vorgängen im Gericht. Und erst recht vermittelten sie keinen richtigen Eindruck davon, wie sie ihre Aussage gemacht hatte – in dumme Tränen aufgelöst und nur auf die freundlichen Fragen des kahlköpfigen Untersuchungsrichters antwortend, der ihr ihre Aussage geradezu entlocken musste; genauso wenig, wie sie ein echtes Bild der rechtschaffenen Empörung des Untersuchungsrichters zeichneten, der ganz rot anlief im Gesicht, als er von dem an Dot begangenen Verratsprach – genauso wenig, wie das kalte, schlimme Wort »Verstorbene« ein Bild der hübschen, unbekümmerten und fröhlichen Dot heraufbeschwor.
Doch es gab zwei kleine Passagen in diesem Bericht, die hervorstachen, als wären sie mit feurigen Lettern geschrieben. »Die Verstorbene sei im dritten Monat schwanger gewesen.« Davon hatte Marjorie nichts gewusst – sie hatte es nicht einmal gewusst, als sie ihre Aussage machte, weil sie nicht in den Gerichtssaal hineindurfte, als der Arzt befragt wurde. Sie hatte angenommen, die freundlichen Fragen des Untersuchungsrichters hätten darauf abgezielt herauszufinden, ob Dot in eine unglückliche Liebesaffäre verstrickt gewesen war. Marjorie hatte nicht einmal eine Vermutung, wer dafür verantwortlich sein könnte, wer es war, dem Dot ihre Liebenswürdigkeit und Jungfräulichkeit so freigebig geschenkt hatte. Sie kannte keinen einzigen Mann, der es wert gewesen wäre. Und wenn Dot tatsächlich jemanden innig genug geliebt hatte, um so etwas zu tun, so hätte sie ihr doch gewiss davon erzählt. Es hatte nie irgendwelche Geheimnisse zwischen Dot und ihr gegeben.
»Die Verstorbene habe eine beträchtliche Menge Alkohol getrunken.« Auch das entsprach Dot so gar nicht. Wein auf Hochzeiten und ein Glas Portwein am ersten Weihnachtstag, mehr hatte sie Dot nie trinken sehen. Es fiel Marjorie sehr schwer, sich vorzustellen, wie Dot sich hinsetzte und sich absichtlich betrank, selbst wenn sie so verzweifelt war, dass sie sich umbringen wollte. Plötzlich tanzte Marjorie ein Bild vor Augen – ein Bild von schwarzen Scherben zerbrochener Weinflaschen, die im Mülleimer lagen. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie Dot Weinflaschen zerschlug. Es war alles so verwirrend, ihr wurde ganz schwindelig davon.
»Mummy!«, rief Derrick. »Mummy! Guck mich doch mal an!«
Das beharrliche Schrillen seiner Stimme hatte schließlich ihre Geistesabwesenheit durchdrungen. Derrick, der sein Eis schon längst aufgegessen hatte, war auf der Suche nach Beschäftigung darauf verfallen, seinen Löffel auf dem Kopf zu balancieren. Und mit einem Mal fiel Marjorie auch die Belustigung der beiden gut gekleideten Frauen am Nebentisch auf und das feindselig-höfliche Lächeln der Cafébetreiberin. Sie schnappte sich den Löffel, beendete Derricks Proteste, indem sie ihn einmal schüttelte, lächelte die Betreiberin entschuldigend an und verließ den Raum, um die Rechnung bezahlen zu gehen.
Die Straße war heiß und voll blendendem Sonnenschein, und wie sie auf Tomlin’s Uhr sah, war es natürlich schon viel zu spät. Sie nahm Derrick bei der Hand und machte sich eilig auf den Weg nach Hause, die High Street entlang, vorbei an den Geschäftsräumen der Gas-Gesellschaft – wo sie mit einem geduldigen »Ja, mein Schatz« auf Derricks schrillen Ausruf, dass hier sein Daddy arbeite, reagierte –, und dann noch die steile Simon Street hinauf, bis sie die letzte Abzweigung erreichte, die in den Harrison Way führte. Allein der Name dieser Straße verriet schon, dass sie nach dem Weltkrieg entstanden war, von einem Spekulanten mit Häusern bebaut, die man nur
Weitere Kostenlose Bücher