Tödliche Option
Güte, da waren noch die Lebensläufe aus dem
Jahr eins. »Nichts mehr wert«, murmelte sie, indem sie sie aussortierte und
wegwarf. »Aha, da ist er.« David Kims Kurzbiographie mit einem
Begleitschreiben. Der übliche Brief. Doch die Privatadresse war nicht Forest
Hills, sondern 2904B Mott Street. Sie stieß einen Freudenschrei aus, schwenkte
den Lebenslauf in der Hand und schob die Ordnerschublade mit einem Knall zu.
»Das reicht!« Smith warf den Bleistift hin und
drehte sich um. »Was hast du, Wetzon? Du murmelst vor dich hin, knallst
Telefonhörer auf, zerreißt Papiere und strafst unschuldige Aktenschubladen.«
»Sieh dir das an.« Wetzon ließ den Lebenslauf
vor Smith auf den Tisch fallen. »Und...« Sie sprang zu ihrem Tisch, schnappte
die Namenliste. »Und jetzt das.« Sie legte sie neben den Lebenslauf. »Was
siehst du?«
»Ist das die Liste der falschen Konten?« Smith’
Blick erfaßte den Lebenslauf und die Liste, schwenkte hin und her vom einen zum
andern. Sie kaute am Radierende ihres Bleistifts, dann fuhr sie mit einem
leuchtend korallenroten Fingernagel über die Namenliste und hielt bei einer
Adresse inne. 2904B Mott Street, die Adresse von Collin Lee. Das war auch die
Adresse, die David Kim auf seinem Lebenslauf benutzt hatte.
Sie starrten einander an.
»Was...« begann Wetzon.
»Die Polizei weiß von der Liste«, unterbrach Smith
sie.
»Und hat sie vermutlich überprüft und nichts
gefunden.« Wetzon legte eine Hand auf Smith’ Schulter. »Smith, hör mir einen
Moment zu. Wenn David es nicht getan hat? Wenn er von einem anderen bei
Luwisher Brothers hereingelegt wurde? Hoffritz vielleicht, oder Destry Bird.«
»Oder Doug Culver?«
»Ja. Wenn er nun verletzt oder tot irgendwo
liegt?«
»>Irgendwo< wie 2904B Mott Street?« Smith
lächelte strahlend.
»Danke.« Wetzon schnappte den Lebenslauf und die
Namenliste von Smith’ Schreibtisch, faltete sie zusammen und steckte sie in
ihre Handtasche. Sie zog die Brieftasche heraus. »Vierzig Dollar. Gut.« Sie
hatte genug Geld dabei.
»Und was, wenn ich fragen darf, gedenkst du
jetzt zu tun?«
»Ich fahre nach Chinatown runter und sehe mich
in 2904B Mott Street um.«
»Aber was wird aus unserem Drink?«
»Es ist ja nicht das letztemal, daß wir uns
sehen.«
Smith schlupfte in ihre Pumps und machte die Tür
auf. »Harold, Wetzon und ich gehen jetzt. Denk daran, das Licht auszumachen,
wenn du gehst, und schließe hinter dir ab.«
»Okay«, rief Harold fröhlich. »Ich bin hier fast
fertig.«
»Was hast du vor, Smith?« Wetzon hängte die
Tasche über die Schulter und ging auf die Tür zu.
Smith folgte ihr auf dem Fuß. »Du glaubst doch
nicht im Ernst, ich lasse dich das allein lösen?«
Canal Street , die Anfang des 19.
Jahrhunderts tatsächlich einmal ein Kanal und ein Spazierweg gewesen war,
stellte sich nun als ein einziger Warenmarkt dar, wo Straßenhändler alles
verkauften, von Batterien und Socken bis zu Fisch und Gemüse. Sie diente auch
als Pforte in eine andere Welt — Chinatown, ein Labyrinth aus dunklen,
gewundenen, dicht bevölkerten Straßen im unteren Manhattan, ein hervorragend
geeigneter Ort zum Verstecken, besonders für einen Asiaten.
Durch Canal Street im Norden, Lafayette im Westen
und die Bowery im Osten begrenzt, wimmelte das Viertel von Einwanderern,
legalen und illegalen. Gefürchtete Straßenbanden verkauften Schutz für die
kleinen Geschäfte, vor allem Restaurants, die sich zur Straße hin in der Mott,
Pell, Bayard, Baxter, Division und am Chatham Square aneinanderreihten. Noch
mehr Restaurants hatten sich in Obergeschossen und Kellern eingerichtet.
Gegrillte Enten baumelten glänzend in den Schaufenstern neben einer Auswahl des
sonstigen Angebots. Ungeachtet der Hitze feilschten Käufer — meist Asiaten — lautstark mit
Verkäufern, während sie mit halbgeschlossenen Augen die zwei weißen Frauen in
Bürokleidung beobachteten.
Ausgeschlossen, dachte Wetzon, daß sie und Smith
nicht auffielen, besonders Smith, die durch die hohen Absätze noch größer war.
Sie bogen von der Bowery rechts ab in die Pell Street, den unverfälschten Bauch
von Chinatown, und schoben sich an den Menschen vorbei, die die schmalen
Bürgersteige verstopften. Alle hier schienen zu schreien. Wo die Pell auf die
Mott stößt, blieben sie stehen. Seit sie aus dem Taxi gestiegen waren, hatten
sie kein Wort gesprochen.
Auf beiden Seiten von heruntergekommenen
Mietshäusern gesäumt, die sich gegenseitig zu stützen schienen,
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