Toedliche Spiele
Familie ein paar Monate leben. »Wie viele Lose kannst du schon haben? Fünf? Ich hatte schon sechs, als ich zwölf war.«
»Sie kann doch nichts dafür«, sage ich.
»Nein, niemand kann etwas dafür. Ist halt nur so«, sagt Gale.
Madge sieht auf einmal verschlossen aus. Sie drückt mir das Geld für die Erdbeeren in die Hand. »Viel Glück, Katniss.«
»Dir auch«, sage ich und die Tür geht zu.
Schweigend gehen wir zum Saum. Es gefällt mir nicht, dass Gale Madge so angegangen hat, aber er hat natürlich recht. Das Erntesystem ist ungerecht, die Armen kommen am schlechtesten weg. Sobald man zwölf wird, kann man bei der Ernte ausgewählt werden. Mit zwölf bekommt man ein Los. Mit dreizehn zwei. Und immer so weiter bis achtzehn, dem Jahr, in dem man zum letzten Mal ausgewählt werden kann und der Name siebenmal in die Glaskugel wandert. Das gilt für jeden Bürger in den zwölf Distrikten im ganzen Land Panem.
Und jetzt kommt der Haken. Sagen wir, jemand ist arm und hungrig wie wir. Dann kann er seinen Namen noch öfter hinzufügen lassen, im Tausch gegen Tesserasteine. Jeder Tesserastein ist eine karge Jahresration Getreide und Öl für eine Person wert. Auch für seine Familienmitglieder kann man Tesserasteine erwerben. Als ich zwölf war, wanderte mein Name daher viermal in die Glaskugel. Einmal, weil ich musste, und dreimal im Tausch gegen Tesserasteine für Getreide und Öl für mich, Prim und meine Mutter. Und so ging es jedes Jahr. Da die Einträge angehäuft werden, ist mein Name jetzt, da ich sechzehn bin, zwanzigmal dabei. Gale ist achtzehn und hat seine fünfköpfige Familie sieben Jahre lang allein ernährt oder miternährt; sein Name ist sogar zweiundvierzigmal dabei.
Deshalb macht ihn jemand wie Madge, die nie einen Tesserastein brauchte, natürlich wütend. Für sie ist die Chance, dass ihr Name gezogen wird, sehr gering im Vergleich zu denen, die im Saum leben wie wir. Es ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Und obwohl die Regeln vom Kapitol festgelegt wurden und nicht von den Distrikten, schon gar nicht von Madges Familie, fällt es schwer, denen, die sich nicht für Tesserasteine melden müssen, nicht zu grollen.
Gale weiß, dass er mit seiner Wut auf Madge die Falsche trifft. Ich habe ihn an anderen Tagen tief im Wald darüber toben hören, dass die Tesserasteine nur ein weiteres Mittel sind, um in unserem Distrikt Elend zu schaffen. Ein Weg, um Hass zu schüren zwischen den hungernden Arbeitern des Saums und denjenigen, die im Allgemeinen ein sicheres Mittagessen vorgesetzt bekommen, und dafür zu sorgen, dass wir einander nie trauen werden. »Das Kapitol hat den Nutzen, wenn wir untereinander gespalten sind«, würde er vielleicht sagen, wenn nur meine Ohren es hören könnten. Wenn nicht Erntetag wäre. Wenn nicht ein Mädchen mit Goldbrosche und ohne Tesserasteine diese Bemerkung gemacht hätte, die für sie, da bin ich mir sicher, ganz harmlos war.
Im Gehen werfe ich einen flüchtigen Blick auf Gales Gesicht, das unter dem versteinerten Ausdruck immer noch glüht. Seine Wutausbrüche kommen mir sinnlos vor, wenn ich das auch nie sage. Nicht dass ich ihm nicht recht geben würde. Aber wozu soll es gut sein, mitten im Wald gegen das Kapitol anzubrüllen? Das ändert gar nichts. Dadurch wird das Leben nicht gerecht. Es macht uns nicht satt. Allenfalls verscheucht es das Wild in der Nähe. Trotzdem lasse ich ihn brüllen. Besser, er tut es im Wald als im Distrikt.
Gale und ich teilen unsere Beute, sodass jeder zwei Fische, ein paar Laibe gutes Brot, Gemüse, ein Viertel der Erdbeeren, Salz, Paraffin und ein bisschen Geld bekommt.
»Bis nachher auf dem Platz«, sage ich.
»Zieh dir was Hübsches an«, sagt er provozierend.
Meine Mutter und meine Schwester sind schon ausgehfertig, als ich nach Hause komme. Meine Mutter trägt ein schönes Kleid aus Apothekerzeiten. Prim steckt in meinem ersten Erntedress, einem Rock mit Rüschenbluse. Er ist ihr ein bisschen groß, aber meine Mutter hat ihn mit Nadeln festgesteckt. Trotzdem rutscht ihr die Bluse hinten immer wieder aus dem Rock.
Eine Wanne mit warmem Wasser wartet auf mich. Ich schrubbe den Dreck und Schweiß aus dem Wald ab und wasche mir die Haare. Zu meiner Überraschung hat meine Mutter eins von ihren hübschen Kleidern für mich herausgelegt. Ein zartblaues mit passenden Schuhen.
»Ist das wirklich für mich?«, frage ich. Allmählich weise ich nicht mehr alle ihre Angebote zurück. Eine Zeit lang war ich so wütend
Weitere Kostenlose Bücher