Toedliche Spiele
besoffen, um mitzukriegen, was vor sich geht? Irgendwie glaube ich das nicht und ich glaube auch nicht, dass er versucht, mich vorsätzlich sterben zu lassen. Auf seine persönliche, unangenehme Art hat er nämlich aufrichtig versucht, mich auf das hier vorzubereiten. Aber was ist dann los?
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen. Gefahr, dass ich losheule, besteht keine; selbst wenn es mir das Leben retten könnte, würde ich keine Träne hervorbringen. Was treibt Haymitch bloß? Wut, Hass und Verdächtigungen zum Trotz flüstert eine leise Stimme in meinem Hinterkopf eine Antwort:
Vielleicht schickt er dir eine Botschaft,
sagt sie. Eine Botschaft. Und was könnte sie besagen? Plötzlich weiß ich es. Es gibt nur einen vernünftigen Grund, weshalb Haymitch mir Wasser vorenthalten würde. Weil er weiß, dass ich es fast gefunden habe.
Ich beiße die Zähne zusammen und rappele mich auf. Das Gewicht meines Rucksacks scheint sich verdreifacht zu haben. Ich finde einen abgebrochenen Ast, der sich als Wanderstab eignet, und laufe los. Die Sonne brennt noch sengender herunter als an den ersten beiden Tagen. Ich fühle mich wie ein altes Stück Leder, das in der Hitze verdorrt und rissig wird. Jeder Schritt kostet Mühe, aber ich halte nicht an. Ich setze mich nicht. Wenn ich mich hinsetzen würde, wäre es gut möglich, dass ich nicht mehr aufstehen kann, dass ich mich nicht mal mehr an meine Aufgabe erinnere.
Eine leichte Beute bin ich! Jeder Tribut, selbst die winzige Rue, könnte mich jetzt erledigen, mich zu Boden stoßen und mit meinem eigenen Messer töten und ich könnte mich praktisch nicht dagegen wehren. Doch wenn irgendwer in meinem Teil des Waldes sein sollte, beachtet er mich nicht. Die Wahrheit ist, dass es mir vorkommt, als wäre ich eine Million Meilen von jeder Menschenseele entfernt.
Aber nicht allein. Nein, mit Sicherheit ist in diesem Augenblick eine Kamera auf mich gerichtet. Ich denke daran, wie ich in den letzten Jahren Tribute verhungern, erfrieren, verbluten und verdursten gesehen habe. Solange nicht irgendwo ein ordentlicher Kampf entbrennt, zeigen sie mich.
Ich denke an Prim. Wahrscheinlich schaut sie mir nicht live zu, aber in der Schule werden wohl während des Mittagessens Zusammenfassungen gezeigt. Um ihretwillen versuche ich so wenig verzweifelt wie möglich auszusehen.
Am Nachmittag weiß ich dennoch, dass das Ende nah ist.
Meine Beine schlackern und mein Herz schlägt zu schnell. Ich vergesse, was ich vorhabe. Mehrfach bin ich gestrauchelt und wieder auf die Beine gekommen, aber als jetzt der Stock unter mir wegrutscht, stürze ich und komme nicht mehr hoch. Ich wehre mich nicht, als meine Augen zufallen.
Ich habe Haymitch falsch eingeschätzt. Er hat überhaupt nicht die Absicht, mir zu helfen.
Das ist okay,
denke ich.
Ist gar nicht schlecht hier.
Es ist nicht mehr so heiß, was bedeutet, dass der Abend naht. Ein schwacher süßer Duft, der mich an Blumen erinnert. Meine Finger gleiten über den weichen Boden und streifen leicht über das Gras.
Das ist ein guter Platz zum Sterben,
denke ich.
Meine Fingerspitzen zeichnen kleine Wirbel in die kühle, glitschige Erde.
Ich liebe Schlamm,
denke ich. Wie oft habe ich mithilfe seiner weichen, lesbaren Oberfläche Wild aufgespürt. Hilft auch gegen Bienenstiche, der Schlamm. Schlamm. Schlamm! Ich reiße die Augen auf und grabe meine Finger in die Erde. Es ist Schlamm! Meine Nase reckt sich in die Luft. Und das sind Blumen! Seerosen!
Jetzt krieche ich durch den Schlamm und schleppe mich zu dem Duft. Fünf Meter von der Stelle entfernt, an der ich zusammengebrochen bin, krieche ich durch Pflanzengestrüpp in einen Teich. Darauf schwimmen gelb blühende Pflanzen, meine schönen Seerosen.
Am liebsten würde ich das Gesicht ins Wasser tauchen und so viel in mich hineinlaufen lassen, wie ich kann. Aber ich kann mich gerade noch beherrschen. Mit zitternden Händen ziehe ich meine Flasche heraus und fülle sie mit Wasser. Dann gebe ich so viele Jodtropfen hinein, wie meiner Erinnerung nach nötig sind, um es zu reinigen. Die halbe Stunde, die ich warten muss, ist quälend, aber ich reiße mich am Riemen. Zumindest kommt es mir wie eine halbe Stunde vor; länger halte ich es auf keinen Fall aus.
Langsam, ganz ruhig,
sage ich mir. Ich nehme einen Schluck und zwinge mich zu warten. Dann noch einen. In den nächsten Stunden trinke ich die ganze Zweiliterflasche aus. Dann noch eine. Ich fülle noch eine dritte, bevor ich mich auf einen Baum
Weitere Kostenlose Bücher