Toedliche Spiele
schneide einen Schlitz in den Stoff und lasse die Wade heraushängen. Träufele Wasser auf die Wunde, auf meine Hände.
Das war's mit meiner Tapferkeit. Ich bin geschwächt von Schmerz und Hunger, trotzdem kann ich mich nicht dazu aufraffen, etwas zu essen. Selbst wenn ich die Nacht überstehe, was wird der Morgen bringen? Ich starre ins Blattwerk und versuche, mich zum Ausruhen zu zwingen, aber die Brandwunden verhindern es. Vögel lassen sich für die Nacht nieder, singen ihren Jungen Schlaflieder vor. Die Geschöpfe der Nacht kommen heraus. Eine Eule ruft. Der Geruch eines Stinktiers dringt undeutlich durch den Qualm. Vom Nachbarbaum starren mich die Augen eines Tiers an, eines Opossums vielleicht, in denen sich der Schein von den Fackeln der Karrieros fängt. Plötzlich stütze ich mich auf den Ellbogen. Das sind nicht die Augen eines Opossums, dazu kenne ich ihren glasigen Widerschein zu gut. Die Augen gehören überhaupt nicht zu einem Tier. Im letzten Dämmerlicht erkenne ich sie, wie sie mich still durch das Geäst hindurch ansieht.
Rue.
Wie lange ist sie schon dort? Wahrscheinlich die ganze Zeit über. Still und unbeachtet, während unter ihr das Treiben seinen Lauf nahm. Vielleicht hat sie ihren Baum erst kurz vor mir erklommen, als sie hörte, dass die Meute nah war.
Eine Weile starren wir uns an. Dann, ohne dass auch nur ein Blatt raschelt, schiebt sich ihre kleine Hand nach vorn und deutet auf eine Stelle über meinem Kopf.
14
Mein Blick folgt der Richtung, in die ihr Finger zeigt, hinauf ins Blätterdach. Zuerst habe ich keine Ahnung, was sie meint, dann mache ich im Dämmerlicht fünf Meter über mir vage eine Form aus. Aber ... was ist das? Irgendein Tier? Es hat die Größe eines Waschbären, hängt jedoch von einem dünnen Ast herunter und schwingt ganz leicht hin und her. Es muss etwas anderes sein. Aus den vertrauten Abendgeräuschen des Waldes hören meine Ohren ein leises Summen heraus. Jetzt weiß ich, was es ist. Ein Wespennest.
Angst schießt durch meinen Körper, doch ich bin klug genug, mich ruhig zu verhalten. Schließlich weiß ich nicht, welche Art von Wespen hier lebt. Es könnte der gewöhnliche Lass-uns-in-Ruhe-dann-lassen-wir-dich-auch-in-Ruhe-Typ sein. Aber wir sind hier bei den Hungerspielen und da ist gar nichts gewöhnlich. Wahrscheinlicher ist deshalb, dass es sich um eine Mutation des Kapitols handelt - Jägerwespen. Wie die Schnattertölpel sind diese Wespen im Labor entstanden und ihre Nester wurden während des Krieges strategisch um die Distrikte herum platziert wie Landminen. Sie sind größer als gewöhnliche Wespen und haben einen auffälligen goldenen Körper; ihr Stich ruft eine pflaumengroße Schwellung hervor. Die meisten Menschen können nur wenige Stiche aushalten. Manche sterben sofort.
Falls man überlebt, bekommt man von dem Gift Halluzinationen, die manch einen in den Wahnsinn getrieben haben. Und noch etwas: Diese Wespen jagen jeden, der ihr Nest stört, und versuchen ihn zu töten. Daher ihr Name: Jägerwespen.
Nach dem Krieg wurden die Nester um das Kapitol herum zerstört, doch die Nester rings um die Distrikte ließ man, wo sie waren. Noch ein kaum verhohlener Hinweis auf unsere Schwäche, nehme ich an, wie die Hungerspiele. Ein Grund mehr, innerhalb des Zauns um Distrikt 12 zu bleiben. Wenn Gale und ich auf ein Jägerwespennest gestoßen sind, haben wir immer sofort kehrtgemacht und sind in die entgegengesetzte Richtung gegangen.
Ist es also das, was da über mir hängt? Ich blicke zurück zu Rue, aber sie ist mit ihrem Baum verschmolzen.
Angesichts der Umstände ist es wahrscheinlich einerlei, um was für eine Wespenart es sich handelt. Ich bin verwundet und sitze in der Falle. Die Dunkelheit hat mir eine kurze Atempause verschafft, aber bis zum Sonnenaufgang werden die Karrieros einen Plan ausgeheckt haben, wie sie mich töten können. Nachdem ich sie so dumm habe dastehen lassen, bleibt ihnen keine andere Wahl. Dieses Nest könnte meine letzte Chance sein. Wenn ich es schaffe, das Nest auf die Karrieros fallen zu lassen, kann ich vielleicht entkommen. Aber ich riskiere dabei mein eigenes Leben.
Natürlich werde ich nie nahe genug an das Nest herankommen, um es abzuschneiden. Ich werde den Ast am Stamm absägen müssen, die Sägeklinge meines Messers müsste dafür ausreichen. Aber was ist mit meinen Händen? Und wird das Vibrieren beim Sägen den Schwärm nicht aufscheuchen? Und wenn die Karrieros erkennen, was ich vorhabe, und sich
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