Toedliche Spiele
bei dem es sich um einen wilden Truthahn oder etwas in der Art handeln muss. Jedenfalls erscheint er mir ziemlich essbar. Am späten Nachmittag beschließe ich, ein kleines Feuer zu machen und das Fleisch zu braten. In der Dämmerung wird der Rauch nicht so auffallen und bei Einbruch der Nacht kann ich das Feuer wieder löschen. Ich nehme das Wild aus und sehe mir den Vogel besonders aufmerksam an, aber ich kann nichts Verdächtiges an ihm entdecken. In gerupftem Zustand ist er nicht größer als ein Huhn, aber er ist drall und fest. Gerade als ich den ersten Teil auf die Glut lege, knackt ein Zweig.
Mit einer einzigen Bewegung drehe ich mich um und lege Pfeil und Bogen an. Niemand da. Oder wenigstens kann ich niemanden sehen. Dann entdecke ich hinter einem Baumstamm die Spitze eines Kinderschuhs. Ich lasse die Schultern sinken und grinse. Sie bewegt sich durch den Wald wie ein Schatten, das muss man ihr lassen. Wie sonst hätte sie mir folgen können? Die Worte kommen aus meinem Mund, bevor ich sie aufhalten kann.
»Warum sollen sie die Einzigen sein, die Bündnisse eingehen können?«, sage ich.
Zuerst kommt keine Antwort. Dann späht Rue mit einem Auge langsam hinter dem Stamm hervor. »Ich soll deine Verbündete sein?«
»Warum nicht? Du hast mich vor diesen Jägerwespen gerettet. Du bist schlau genug, um immer noch am Leben zu sein. Und offenbar kann ich dich sowieso nicht abschütteln«, sage ich. Sie blinzelt mich an und versucht sich zu entscheiden.
»Hast du Hunger?« Ich sehe, wie sie tief Luft holt und ihr Blick zum Fleisch schießt. »Dann komm, ich hab heute zwei Tiere erlegt.«
Zaghaft tritt Rue ins Freie. »Ich kann deine Stiche verarzten.«
»Tatsächlich?«, sage ich. »Und wie?«
Sie kramt in dem Bündel, das sie dabeihat, und holt ein Büschel Blätter heraus. Ich bin fast sicher, dass es die gleichen sind, die meine Mutter benutzt. »Wo hast du die gefunden?«
»Hier in der Nähe. Wir nehmen sie immer mit, wenn wir in den Obstgärten arbeiten. Dort gibt es noch viele Nester«, sagt Rue. »Und hier gibt es auch viele.«
»Das stimmt. Du bist Distrikt 11. Landwirtschaft«, sage ich. »Obstgärten, hm? Deshalb kannst du also durch die Bäume fliegen, als ob du Flügel hättest.« Rue lächelt. Offenbar habe ich eine der wenigen Sachen angesprochen, auf die sie stolz ist. »Na, dann los. Verarzte mich.«
Ich setze mich neben das Feuer und krempele mein Hosenbein bis zu dem Stich am Knie hoch. Zu meiner Überraschung nimmt Rue die Blätter in den Mund und kaut darauf herum. Meine Mutter hätte das anders gemacht, aber hier haben wir ja auch nicht viele Möglichkeiten. Nach etwa einer Minute presst Rue eine klebrige grüne Masse aus zerkauten Blättern und Speichel auf mein Knie.
»Ohhh.« Der Laut entfährt mir, ehe ich ihn aufhalten kann. Es ist, als würden die Blätter den Schmerz geradewegs aus dem Stich herausziehen.
Rue kichert. »Sei froh, dass du so schlau warst, die Stacheln zu entfernen, sonst würd's dir jetzt viel schlechter gehen.«
»Mach das am Hals! An der Wange!«, bettele ich fast.
Rue stopft sich wieder eine Handvoll Blätter in den Mund und schon bald lache ich, weil die Linderung so guttut. Da sehe ich eine Brandwunde über die ganz Länge von Rues Unterarm. »Dagegen hab ich was.« Ich lege meine Waffen hin und reibe ihren Arm mit der Brandsalbe ein.
»Du hast gute Sponsoren«, sagt sie sehnsüchtig.
»Hast du schon was bekommen?«, frage ich. Sie schüttelt den Kopf. »Kommt schon noch. Wirst sehen. Je näher es dem Ende zu geht, desto mehr Leute werden merken, wie clever du bist.« Ich drehe das Fleisch.
»Das war kein Scherz, dass du mich als Verbündete willst?«, fragt sie.
»Nein, das meine ich ernst«, antworte ich. Fast kann ich Haymitch aufstöhnen hören, dass ich mich mit diesem zerbrechlichen Kind verbünde. Aber ich will sie. Denn sie ist eine Überlebende und ich vertraue ihr und - ja, warum es nicht zugeben? Sie erinnert mich an Prim.
»Gut«, sagt sie und hält mir die Hand hin. Ich schlage ein. »Abgemacht.«
Natürlich kann diese Abmachung nur für eine bestimmte Dauer gelten, aber keiner von uns erwähnt das.
Rue steuert ein großes Büschel stärkehaltige Wurzeln zur Mahlzeit bei. Über dem Feuer geröstet, haben sie den scharfsüßen Geschmack von Pastinaken. Rue kennt auch den Vogel, irgendein Wildtier, das sie in ihrem Heimatdistrikt Grusling nennen. Manchmal, erzählt sie, verirrt sich eine Schar in den Obstgarten und dann bekommen sie
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