Toedliche Spiele
eine anständige Mahlzeit auf den Tisch. Eine Zeit lang sagen wir nichts und schlagen uns nur die Bäuche voll. Der Grusling besitzt köstliches Fleisch, das Fett tropft einem vom Kinn, wenn man hineinbeißt.
»Oh«, sagt Rue und seufzt. »Ich hab noch nie ein ganzes Bein für mich allein gehabt.«
Das glaube ich gern. Ich schätze, sie bekommt kaum Fleisch zu Gesicht. »Nimm auch das andere«, sage ich.
»Wirklich?«, fragt sie.
»Nimm, so viel du willst. Jetzt, da ich Pfeil und Bogen habe, kann ich mehr besorgen. Und ich habe Fallen. Ich kann dir zeigen, wie man sie stellt«, sage ich. Rue betrachtet noch immer unentschlossen das Bein des Vogels. »Nun nimm schon«, sage ich und drücke ihr die Keule in die Hand. »Es hält sich sowieso nur ein paar Tage und wir haben den ganzen Vogel und noch das Kaninchen.« Sobald sie das Bein in der Hand hält, siegt ihr Hunger und sie verschlingt einen riesigen Bissen.
»Ich hätte gedacht, ihr in Distrikt 11 habt ein bisschen mehr zu essen als wir. Weil ihr doch Nahrungsmittel anbaut«, sage ich.
Rues Augen weiten sich. »Oh nein, wir dürfen von der Ernte nichts essen.«
»Werdet ihr dann verhaftet oder was?«, frage ich.
»Man wird ausgepeitscht und die anderen müssen alle zuschauen«, sagt Rue. »Da ist der Bürgermeister sehr streng.«
Aus ihrem Blick schließe ich, dass das nicht so selten vorkommt. Bei uns in Distrikt 12 gibt es kaum öffentliche Auspeitschungen. Streng genommen könnten Gale und ich jeden Tag ausgepeitscht werden, weil wir im Wald wildern - na ja, ganz streng genommen könnte es uns auch noch viel schlimmer ergehen. Aber die Beamten kaufen ja alle unser Fleisch und abgesehen davon scheint unser Bürgermeister, Madges Vater, wenig Gefallen an solchen Spektakeln zu finden. Vielleicht hat es ja auch Vorteile, wenn man der am wenigsten angesehene, ärmste, am meisten verspottete Distrikt des Landes ist. Zum Beispiel den, dass man vom Kapitol ignoriert wird, solange man nur die Kohlequoten erfüllt.
»Bekommt ihr denn so viel Kohle, wie ihr wollt?«, fragt Rue.
»Nein«, antworte ich. »Nur, was wir kaufen plus die Krümel, die wir mit den Schuhen ins Haus tragen.«
»Während der Ernte bekommen wir ein bisschen mehr zu essen, damit die Leute länger durchhalten«, sagt Rue.
»Musst du denn nicht zur Schule?«, frage ich.
»Nicht während der Ernte. Dann arbeiten alle«, sagt Rue.
Es ist interessant, etwas über ihr Leben zu erfahren. Wir haben ja kaum Kontakt zu den Leuten außerhalb unseres Distrikts. Ich frage mich, ob die Spielmacher unsere Unterhaltung wohl ausblenden. Auch wenn die Informationen harmlos erscheinen, die Leute in den einzelnen Distrikten sollen nichts über die anderen erfahren.
Rue schlägt vor, unsere Lebensmittel auszubreiten, damit wir planen können. Sie hat meine ja schon größtenteils gesehen, aber ich lege noch die letzten paar Kräcker und Rindfleischstreifen auf den Stapel. Sie hat eine ansehnliche Sammlung von Wurzeln, Nüssen, Gemüse und sogar Beeren angelegt.
Ich drehe eine unbekannte Beere zwischen den Fingern. »Bist du dir sicher, dass man die essen kann?«
»Oh ja, die haben wir zu Hause auch. Die esse ich schon seit Tagen«, sagt sie und steckt sich rasch eine Handvoll in den Mund. Zögernd beiße ich in eine Beere und sie schmeckt so lecker wie unsere Brombeeren. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war, Rue zur Verbündeten zu nehmen. Wir teilen unsere Vorräte untereinander, damit wir, falls wir getrennt werden, beide ein paar Tage damit auskommen. Außer dem Essen besitzt Rue noch einen kleinen Lederbeutel für Wasser, eine selbst gemachte Zwille und ein Extrapaar Socken. Und sie hat eine scharfe Steinscherbe, die sie als Messer benutzt. »Das ist nicht viel, ich weiß«, sagt sie, als wäre es ihr unangenehm, »aber ich musste so schnell wie möglich vom Füllhorn weg.«
»Daran hast du gut getan«, sage ich. Als ich meine Vorräte ausbreite und sie die Sonnenbrille sieht, verschlägt es ihr fast den Atem.
»Woher hast du die denn?«, fragt sie.
»Aus meinem Rucksack. Ich konnte sie noch gar nicht verwenden. Sie hält die Sonne nicht ab und erschwert die Sicht eher«, sage ich achselzuckend.
»Die ist nicht für tagsüber, die ist für nachts«, ruft Rue. »Manchmal, wenn wir auch nachts ernten, geben sie denen von uns, die ganz hoch in die Bäume hinaufklettern, dort, wo die Fackeln nicht hinreichen, solche Brillen. Einmal hat ein Junge, Martin, versucht,
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