Tödliche Therapie
auf dessen Besuch Sie keinen Wert legen.
Sie verstehen schon.“
Ich dankte ihm ausdrücklich und wartete auf
Burgoyne. Er lief die Treppen herauf und kam oben an, ohne außer Atem zu sein.
Er trug einen leichten dunkelblauen Anzug und sah mit dem frisch gewaschenen
dunklen Haar jünger und zufriedener aus als im Krankenhaus.
„Hallo“, sagte er. „Schön, Sie wiederzusehen. Wer
ist der alte Mann?“
„Ein Nachbar und guter Freund. Er fühlt sich als
mein Beschützer. Lassen Sie sich nicht ärgern, er meint es nicht böse.“
„Nein, natürlich nicht. Sind Sie fertig? Sollen wir
mein Auto nehmen?“
„Einen Augenblick.“ Ich ging zurück in die Wohnung
und holte einen Hut. Die Anweisung, pralle Sonne zu vermeiden, nahm ich
durchaus ernst.
„Sie haben ganz schön was abgekriegt.“ Burgoyne
studierte mein Gesicht. „Sieht aus, als ob Ihnen ein Glassplitter direkt ins
Gesicht geflogen ist. Ich dachte, Windschutzscheiben splittern heutzutage
nicht mehr.“
„Es war ein Stück Metall“, erklärte ich und drehte
den Schlüssel zweimal um.
Burgoyne fuhr einen 86er Nissan Maxima. Der Wagen
war erstklassig ausgestattet mit Ledersitzen, deren Lehnen man in sechs
verschiedene Stellungen bringen konnte, einem Armaturenbrett aus Leder und
natürlich mit einem Telefon. Von draußen drang kein Geräusch herein, und die
Klimaanlage, die die Temperatur konstant auf zwanzig Grad hielt, arbeitete
lautlos. Wenn ich eine Kanzlei aufgemacht und meinen Mund gehalten hätte, als
es angebracht gewesen wäre, würde ich heute auch so ein Auto fahren. Aber dann
wäre ich nie Sergio oder Fabiano begegnet. Man kann im Leben nicht alles haben.
„Können Sie sich einfach einen Nachmittag
freinehmen für eine Beerdigung?“ fragte ich neugierig.
Er lächelte kurz. „Ich leite die Station - ich
nehme mir einfach frei.“
Ich war beeindruckt. „Sie haben schon 'ne Menge
erreicht für Ihr Alter, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich
glaube, ich habe Ihnen schon erzählt, daß ich im Friendship angefangen habe,
als die gerade die Entbindungsstation einrichteten. Ich bin einfach nur am
längsten dabei. Das ist alles.“
Wir brauchten knapp zehn Minuten für die drei
Meilen bis zur Kirche. Es war kein Problem, in den heruntergekommenen Straßen
einen Parkplatz zu finden. Burgoyne schloß sein Auto sorgfältig ab und schaltete
die Alarmanlage ein. Zumindest am hellichten Nachmittag würde sie die nicht
ganz so unternehmungslustigen Jugendlichen abhalten.
Die Kirche war vor sechzig Jahren für die große
polnische Gemeinde gebaut worden. In ihren besten Zeiten besuchten nahezu
tausend Menschen die Sonntagsmesse. Heute konnten nicht einmal die zahlreichen
Alvarados, ein ganzer Konvent Nonnen und Dutzende von Schulmädchen das
Kirchenschiff füllen. Schmucklose Steinsäulen stützten das Deckengewölbe. Ein
Hochaltar war von unzähligen Kerzen erleuchtet. Vor den Fenstern waren
Drahtgitter angebracht worden, um das verbliebene farbige Glas zu schützen.
Sie trugen zu der düsteren, abweisenden Atmosphäre der Kirche bei. Von den
Erneuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils war hier nichts zu spüren. Die
buntgekleideten Schulmädchen bildeten die einzigen Farbflecken. Mir gefiel der
katholische Brauch, bei Beerdigungen von Kindern keine Trauerkleidung zu
tragen.
Lotty saß allein im ersten Drittel der
Kirchenbänke. Schwarzgekleidet machte sie einen strengen Eindruck. Ich ging auf
sie zu, Burgoyne demütig in meinem Schlepptau. Flüsternd stellte ich sie
einander vor. Die Orgel spielte leise, als die Trauernden den Gang
entlangschritten und vor den mit Blumen übersäten Särgen das Knie beugten. Mrs.
Alvarado saß zusammen mit ihren fünf übrigen Kindern in der ersten Reihe. Ich
sah, wie sie steif nickte, als ein paar Leute stehenblieben, um ihr zu
kondolieren.
Die Musik wurde etwas lauter. Dies nützte Lotty
aus, um mir zuzuflüstern, daß Fabiano mit seiner Mutter drei Reihen vor uns
saß. Ich blickte in die Richtung, in die ihr Finger zeigte, konnte aber bloß
hochgezogene Schultern und kaum etwas von seinem Gesicht erkennen. Ich sah sie
fragend an.
„Geh nach vorn und schau dir auf dem Rückweg sein
Gesicht an.“
Ich reihte mich folgsam hinter Burgoyne in die
Schlange der Trauergäste ein, warf einen flüchtigen Blick auf die Blumen und
das Foto auf Consuelos Sarg, vermied es, den Miniatursarg daneben anzusehen,
und wandte mich zu Mrs. Alvarado. Sie nahm mein Beileid mit einem
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