Toedliche Wut
über den Fall weiß. »Anscheinend hatten Perry und Irene Mast nach dem Selbstmord ihrer Tochter eine Art Nervenzusammenbruch. Aus Gründen, die wir nicht kennen, machten sie ihren Sohn für den Tod der Tochter verantwortlich und sperrten ihn ein. Und sie fingen an, aufsässige amische Teenager aufs Korn zu nehmen.«
»Wie viele Tote?«, fragt Glock.
»Vier«, erwidere ich. »Die Techniker von der Spurensicherung sind noch auf der Farm.«
»Wie geht es Sadie Miller?«, fragt Lois.
»In ein paar Minuten fahre ich rüber und nehme ihre Aussage auf«, antworte ich. »Alles Weitere erzähle ich später.«
In dem Moment vibriert mein Mobiltelefon an der Hüfte. Ich ziehe es aus dem Clip, sehe Tomasettis Namen im Display und nehme auf dem Weg in mein Büro ab. »Bist du gut nach Hause gekommen?«
»Schon vor ein paar Stunden«, sagt er. »Und du?«
»Ich betrete gerade mein Büro.« Ich werfe die Schlüssel auf den Schreibtisch. »Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Noah Mast ist verschwunden. Hat heute Morgen das Krankenhaus verlassen und ist nicht wieder aufgetaucht.«
»Sehr merkwürdig. Haben die Officer im Farmhaus nachgesehen? Und im Tunnel? Manchmal gehen Menschen an den Ort zurück, der ihnen vertraut ist, auch wenn es kein schöner war.«
Tomasetti erwidert, dass er das in Noahs Fall nicht glaubt. »Wenn er in der nächsten Stunde nicht auftaucht, gibt der Sheriff eine Suchmeldung heraus.«
»Glaubst du, er hat sich etwas angetan?«
»Überraschen würde es mich nicht.« Er hält inne. »Hast du schon mit Sadie Miller gesprochen?«
»Ich fahre jetzt gleich raus zur Farm. Sobald ich den Bericht getippt habe, schick ich ihn dir.«
* * *
Esther Miller ist im Garten hinter dem Haus und hängt Hosen auf, einen Weidekorb voll nasser Wäsche zu ihren Füßen. Sie lächelt mit der Klammer im Mund, als sie mich kommen sieht.
» Guder mariye «, sage ich, wünsche ihr einen guten Morgen.
» Wie bischt du heit ?« Wie geht es dir heute?
Sie ist eine völlig veränderte Frau. Ihre lebhaften Augen leuchten, und sie ist wirklich froh, mich zu sehen. Die Hose in ihrer Hand fällt zurück in den Korb, sie kommt zu mir und umarmt mich, drückt mich fest.
» Gott segen eich .« Gott segne dich. Sie weint nicht, aber zittert merklich. »Ich danke dir, dass du sie uns zurückgebracht hast.«
Als ich beginne, mich unbehaglich zu fühlen, schiebe ich sie sanft auf Armeslänge von mir weg und schenke ihr ein Lächeln. »Wie geht es ihr?«
»Gut. Sie ist glücklich, glaube ich.« Sie blinzelt die Tränen weg. »In zwei Wochen wird sie getauft.«
»Das freut mich für dich.« Doch ich spüre einen Stich im Bauch, wenn ich an Sadies große Leidenschaft für ihre kreativen Handarbeiten denke, der sie abschwören muss, wenn sie der Glaubensgemeinschaft beitritt. Und mir wird klar, dass ich den Verlust sehr bedaure.
»Ich muss noch ihre Aussage aufnehmen, Esther. Ist sie gerade beschäftigt?«
»Sie ist in der Scheune und füttert das neue Kälbchen.« Sie holt eine Hose aus dem Wäschekorb und hängt sie an die Leine. »Geh nur, Katie. Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Ich komme zu euch, sobald ich mit der Wäsche hier fertig bin.«
Ich gehe über den Hof zu der riesigen roten Scheune. Die große Schiebetür steht offen, und beim Eintreten umhüllt mich der Geruch von frischem Heu. Im Schatten zu meiner Linken steht ein Buggy, der einen neuen Anstrich braucht. Ich höre Sadie einen alten Song von Annie Lennox singen und gehe in ihre Richtung.
Ich finde sie im Stall. Sie hält einen Aluminiumeimer mit großem Sauger, an dem ein neugeborenes Kalb mit seinem weißen Maul gierig nuckelt, mit jedem Schluck die Augen rollt und energisch an die Flasche stupst. Der süßliche Geruch von Milchaustauscher – dem Ersatz für Muttermilch – erfüllt die Luft, und einen Moment lang katapultiert mich der vertraute Anblick zurück in die Vergangenheit.
»Er ist echt goldig«, sage ich.
Sadie sieht grinsend von ihrer Arbeit auf. Sie trägt ein hellblaues Kleid, eine weiße Schürze und die Kapp . Von dem Mädchen, das sich noch vor wenigen Tagen auf der Brücke geprügelt hat, ist nichts mehr zu sehen. Doch die Veränderung scheint tiefer zu gehen als an der Kleidung sichtbar. In ihren Augen ist ein Friede, den ich zuvor nicht bemerkt habe. » Er ist eine Sie , und ihre Mamm hat beschlossen, dass sie nichts mit ihr zu tun haben will.«
»Das ändert sich vielleicht noch.«
»Vielleicht.« Sie blickt auf das Kälbchen und
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