Toedliche Wut
würde. Dass er sie mit offenen Armen im Himmel empfangen und bis in alle Ewigkeit bedingungslos lieben würde. Wie also konnte es dann verkehrt sein?
Sie stand auf und sah sich um. Die Uferbäume waren kaum noch zu erkennen. Nicht weit vor ihr schimmerten die Umrisse einer Eisfischerhütte wie eine Fata Morgana aus schwindendem Licht. Sie klopfte den Schnee von ihrem Mantel und ging auf das Häuschen zu. Es war aus Holz, mit einem Fenster und einem Blechrohr als Schornstein und erinnerte sie an eine hohe, schmale Hundehütte. Sie wusste, dass die englischen Fischer manchmal hier draußen übernachteten. Aber in der hier leuchtete kein verräterisches Laternenlicht, und kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Da war niemand drin. Mehr wollte sie gar nicht.
Becca kämpfte sich durch eine tiefe Schneewehe zur Tür. Am Riegel hing ein offenes Vorhängeschloss. Zitternd vor Kälte, zog sie die Tür auf. Drinnen war es dunkel und still; die Luft roch nach Petroleum und Fisch. Außer dem Wind war nur noch das Knacken des Eises unter ihren Füßen zu hören. Weiße Atemwölkchen schwebten vor ihrem Gesicht, als sie die mitgebrachte Kerze und die Streichhölzer aus der Tasche holte und den Docht anzündete. Im Schein des Lichtes sah sie Sperrholzwände, eine kleine Sitzbank und ein mit Fischblut und silbernen Fischschuppen bedecktes Regal mit einer Laterne drauf. An der Wand hing ein aufgewickeltes Seil.
Becca ging zum Regal, stellte die Kerze neben die Laterne, drehte sich um und betrachtete den Fußboden. Das Loch zum Fischen war mit einer Sperrholzplatte abgedeckt. Sie beugte sich und zog das Holz weg. Das Loch war ungefähr einen halben Meter groß und mit einer frischen Eisschicht überzogen.
Sie blickte sich nach etwas um, womit sie das Eis aufbrechen könnte, sah zunächst nur einen kaputten Ziegelblock, eine Plastikbox mit Fischhaken und leere Bierdosen. Doch dann fiel ihr Blick auf den Handschneckenbohrer. Sie kniete neben dem Loch und durchbrach damit die dünne Eisschicht.
Als das Loch ganz frei war, ging Becca zu der Bank und nahm das Seil vom Haken. Es war ungefähr dreieinhalb Meter lang und an beiden Enden ausgefranst. Mit zitternden Händen band sie sich das eine Ende um die Taille und verbot sich jeden weiteren Gedanken, als sie das andere am Betonblock befestigte.
Wieder kniete sie neben dem Loch im Eis, senkte den Kopf und sprach leise das Vaterunser. Sie bat Gott, sich um ihre Mamm und ihren Datt zu kümmern, dass er ihren Kummer in den folgenden Tagen lindern möge. Sie bat Ihn, ihrem Bruder all das zu vergeben, was er ihr fast das ganze Leben lang angetan hatte. Und schließlich bat sie Gott um die Vergebung der Sünde, die sie gleich begehen würde. Sie schloss die Augen und betete so inbrünstig wie nie zuvor in ihrem Leben, hoffte, es würde genügen.
Schließlich erhob Becca sich, nahm das Seil und ließ den Ziegelblock hinab ins Wasser, sah zu, wie er in den schwarzen Tiefen verschwand. Sie dachte an die Reise, die vor ihr lag, und ihre Brust schwoll an, nicht aus Angst, sondern aus der Gewissheit heraus, dass bald alles in Ordnung sein würde.
Sie schloss die Augen, trat einen Schritt nach vorn und ließ sich ins Wasser fallen.
1.
Kapitel
Manche Orte sind einfach zu schön, als dass dort schlimme Dinge passieren könnten, hatte meine Mamm einmal gesagt. Als Kind glaubte ich an diese Worte aus tiefstem Herzen. Ich lebte in ahnungsloser Glückseligkeit, wusste nichts von dem Bösen, das wie ein Raubtier mit Schaum vor dem Mund vor den unsichtbaren Toren unserer kleinen Amisch-Gemeinde lauerte. Die Welt der Englischen mit ihren Rätseln und verbotenen Reizen schien Millionen Meilen weit weg von unserem perfekten Fleckchen Erde. Ich konnte nicht wissen, dass manche Feinde auch von innen herauskommen und dass Schönheit die Menschen nicht daran hindert, Verbrechen zu begehen.
Das Amisch-Land in Ohio gleicht einem Mosaik aus malerischen Farmen und sanft geschwungenen Hügeln, durchzogen von Feldern mit kerzengeraden Maisreihen, üppigen Laubwäldern und Weiden so grün, dass man schwören könnte, in eine Fotografie von Bill Coleman getreten zu sein. An diesem Morgen, während die Sonne sich durch die letzten Nebelfetzen kämpft und der Tau wie Quecksilber am hohen Wiesengras glitzert, muss ich an die Worte meiner Mamm denken und verstehe, warum sie das geglaubt hatte.
Doch ich bin jetzt Polizistin und nicht mehr so leicht durch Äußerlichkeiten zu beeindrucken, auch wenn sie noch so
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