Toedlicher Blick
Tahoe.
»Swanson«, sagte Lucas und entspannte sich.
Swanson war ein langjähriger Mitstreiter in der Mordkommission, ein Typ, der gern freiwillig Nachtschichten schob, jedoch ein wenig zu alt für den Job war, auch ein wenig zu dick. Nicht brillant, aber kompetent. Die Frau neben ihm war eine kleine, drahtige Kriminalbeamtin aus dem Sittendezernat: Carolyn Rie, sommersprossig, mit wilder Haarmähne und blitzenden Zähnen. Eine interessante Frau, dachte Lucas, bei der er in Anwesenheit Weathers aufpassen musste, dass er sie nicht zu lüstern anschaute. Sie trug eine weite Lederjacke mit Wollfutter, trotz der Kälte aber keine Handschuhe.
»Hallo Swanson … Hey, Carolyn«, begrüßte Lucas die beiden durch das offene Wagenfenster.
»Wir haben da was, das du dir vielleicht ansehen möchtest«, sagte Swanson und wedelte mit einer Papierrolle.
Im Haus ging Weather in die Küche, um Kaffee zu machen. Die Cops zogen ihre Jacken aus. »Okay, dann legt mal los«, sagte Lucas.
Rie nahm Swanson die Rolle aus der Hand und breitete sie auf dem Esstisch aus. »Ach du heilige Scheiße«, war Lucas’ erster Kommentar. Es war die detailgetreue und halb lebensgroße Zeichnung einer nackten Frau, deren Körper dem Betrachter zugewandt war; sie hatte die Beine leicht gespreizt und eine Hand in die Vulva gepresst. Die Frau trieb zugleich Fellatio mit einem Mann, von dem nur der Unterleib zu sehen war.
Weather hatte Lucas’ Kommentar gehört und kam herein, um sich die Zeichnung anzusehen. »Widerlich«, sagte sie. Sie sah Rie an. »Wo haben Sie das denn her?«
»Im vergangenen November ging eine Frau namens Emily Patton über die überdachte Fußgängerbrücke, die zur Washington Avenue am Westufer und zu ihrem Ziel, der Universitätsbibliothek, führt. Es war sechs Uhr morgens, noch ganz dunkel, und es waren nicht viele Leute unterwegs. Und sie sieht diese Zeichnung an einer der Wände hängen – ihr wisst, was ich meine? Diese Stellwände, an denen die Studenten ihre Poster und Inserate aufhängen?«
»Ja, weiter!«, sagte Lucas ungeduldig.
»Also, sie sieht diese Zeichnung, daneben noch zwei weitere. Und Patton erkennt diese Frau.« Rie tippte auf das gezeichnete Gesicht. »Sie denkt, diese Frau wäre bestimmt nicht einverstanden, sich so in der Öffentlichkeit dargestellt zu sehen, und nimmt alle drei Zeichnungen von der Wand. Ich persönlich glaube, dass sie erst ein paar Minuten zuvor aufgehängt wurden, sonst wären sie bestimmt schon von einem Pornoliebhaber geklaut worden. Sie waren nur mit Tesafilm festgeklebt.«
»Keine Fingerabdrücke auf den Tesa-Streifen?«, fragte Lucas.
»Nein, aber darauf kommen wir noch zurück«, antwortete Rie. »Jedenfalls war Patton wegen ihres seltsamen Fundes ziemlich verlegen, und sie wusste nicht, was sie der Frau, die diese Zeichnung darstellte, sagen sollte – sie waren mal zusammen in eine Vorlesung gegangen, kannten sich aber nicht näher.«
»Wie heißt sie?«, fragte Weather. »Die Frau auf den Zeichnungen?«
»Beverly Wood«, antwortete Rie. »Aber schließlich, ein paar Tage später, geht Patton dann doch zu Wood und fragt sie: ›Hey, hast du gewusst, dass jemand unanständige Poster von dir in der Öffentlichkeit aufhängt?‹ Wood weiß es nicht, Patton zeigt ihr die Zeichnungen, und Wood fällt beinahe in Ohnmacht. Sie kommen schließlich gemeinsam zu uns. Und Wood sagt aus, sie habe niemals für irgendwelche Bilder oder Zeichnungen dieser Art Modell gesessen. Sie habe bisher überhaupt nur zwei sexuelle Beziehungen in ihrem Leben gehabt, und keine davon habe lange gedauert. Im Übrigen, so ihre Worte, sei dieser Sex ›sehr konventionell‹ gewesen. Keine Fotos oder Video-Aufnahmen, kein nacktes ›Rumgerangel‹ oder so was.«
»Klingt ziemlich langweilig«, sagte Lucas.
»So ist es«, bestätigte Rie. »Sie ist tatsächlich nicht im Geringsten der Typ Frau, der sich für so was hergibt.«
»Habt ihr die beiden Männer überprüft? Die Ex-Freunde?«
»Ja. Beide sind nette Kerle, wie Wood selbst bestätigt, und beide streiten empört ab, mit dieser Schweinerei was zu tun zu haben. Keiner der beiden hat einen künstlerischen Hintergrund – und wer auch immer diese ›Kunstwerke‹ angefertigt hat, er muss
gut
sein. Ich meine, er muss ein guter Zeichner sein.«
Sie schauten alle noch einmal hin: Ja, er war gut, dieser »Künstler«. »Kein Zweifel, dass es sich um Wood handelt?«, fragte Lucas. »Das Bild könnte doch einfach nur ähnlich sein.«
»Nein.
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