Tödlicher Mittsommer
weiterleben können, die er ihr gesagt hatte?
Jetzt und hier hätte er seine Seele an den Teufel verkauft, um an eine Axt zu kommen.
Am alten Kleinboothafen der Insel konnte er Dächer erkennen. Vielleicht lagen in den Bootsschuppen noch Gerätschaften herum?
Er rannte los, die Fäuste geballt, und sein Atem ging flach und stoßweise. Plötzlich rutschte er in dem taufeuchten Gras aus und überschlug sich beinahe. Sein Ellbogen krachte hart auf einen Stein. Er hörte das grausame Geräusch, hatte aber keine Zeit, darüber nachzudenken, ob es wehtat, sondern sprang auf und lief weiter.
Unten am Wasser war alles still.
Er rüttelte am schwarzen Türgriff des ersten Schuppens. Die Tür war zu. Abgesperrt.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
An der Stirnwand war ein kleines Fenster.
Henrik erkannte, dass er einen großen Stein brauchte. An der Wasserkante entdeckte er einen Granitbrocken voller Seegras und Tang. Er hob ihn hoch und warf ihn mit voller Wucht durch die Fensterscheibe. Das Geräusch von splitterndem Glas klang in der Stille wie ein Pistolenknall. Rasch fasste er mit der Hand durch das Loch, hakte die Fensterflügel auf und kletterte hinein.
Im Schuppen sah er die Umrisse verschiedener Werkzeuge. In einer Ecke entdeckte er eine Axt, die an der Wand lehnte. Er hätte vor Erleichterung heulen mögen, als er sie sah. Mit der Axt in der Hand kletterte er hastig wieder hinaus.
In der Eile schnitt er sich an den Scherben das Schienbein auf, es war eine böse Wunde, mehrere Zentimeter lang. Mechanisch registrierte er, dass sie genäht werden musste, sonst würde es eine hässliche Narbe geben.
Während das Blut an seinem linken Bein hinablief, hetzte er zurück zum Leuchtturm. Er riss die Tür auf und rannte die Stufen zum ersten Absatz hoch.
»Hier, schlag den Handgriff ab«, rief er Thomas keuchend zu.
Er konnte kaum sprechen. Seine Lunge stach vor Atemnot, und die verqualmte Luft biss in der Kehle. Er musste sich vornüberbeugen und die Hände auf die Knie stützen, um nicht die Besinnung zu verlieren.
Thomas packte die Axt und schlug zu. Ein zweiter, kräftigerer Schlag folgte, und dann noch einer. Beim vierten Schlag sprang der Bügelhandgriff ab.
Der riesige Schraubenschlüssel fiel zu Boden, das metallische Klirren hallte durch den Turm. Thomas stieg über das Werkzeug und riss die Tür mit einem Ruck auf. Durch den Spalt entdeckte Henrik Nora auf dem Boden hinter der Tür. Sie lag zusammengekrümmt auf der Seite. Der Raum war voller Qualm und nahezu pechschwarz.
Henrik stürzte zu seiner Frau und sank neben ihr auf die Knie, um ihr den Puls zu fühlen. Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte sich der verzweifelte Ehemann in den routinierten Arzt.
»Insulinschock. Sie muss sofort ins Krankenhaus.«
Er legte die Arme um ihre Schultern und hob sie vorsichtig an, sodass ihr Kopf auf seinem Schoß ruhte. Sie war nicht ansprechbar.
»Ruf den Hubschrauber an. Wir müssen sofort eine Zuckerlösung injizieren. Das ist die einzige Möglichkeit, um die Hypoglykämie zu beenden. Zucker direkt in die Blutbahn spritzen.«
Mit Angst im Blick sah er zu Thomas hoch.
»Ich weiß nicht, ob sie es schafft.«
Sandhamn, Juli 2005
Wo soll ich anfangen? Was passiert ist, lässt sich nicht wiedergutmachen. Aber ich muss es berichten.
Krister Berggren war der Sohn meines Bruders. Dieses Jahr Ostern kam er nach Sandhamn und suchte mich auf. Er erklärte, er sei mein Neffe, Helges unehelicher Sohn, den ich nie zu Gesicht bekommen hatte. Seine Mutter hielt die Vaterschaft all die Jahre hindurch geheim.
Als Helge zwölf wurde, schickten unsere Eltern ihn auf eine Schule in Vaxholm. Wegen der Entfernung konnte er nur an den Wochenenden nach Hause kommen. Und im Winter auch nur, wenn der Dampfer es durch das Eis schaffte. Deshalb wurde Helge in Vaxholm einquartiert, bei Familie Berggren.
Die jüngste Tochter der Berggrens hieß Cecilia. Sie war zwei Jahre älter als er, und mit der Zeit verliebte Helge sich bis über beide Ohren in sie. Diese Liebe hatte Folgen. Cecilia wurde von Helge schwanger, als er sechzehn war und sie achtzehn.
Cecilias Eltern wandten sich an unseren Vater, der vollkommen außer sich geriet. Er ließ Helge umgehend nach Sandhamn zurückkehren und zahlte viel Geld an die Berggrens. Im Gegenzug verlangte er, dass die Sache totgeschwiegen und das Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben werden müsse.
Kurz bevor Vater starb, erzählte er mir die ganze Geschichte. Helge dagegen schwieg.
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