Toedliches Fieber
seine unglaublich blauen Augen und konnte nicht weiterreden. Ich stand wie gelähmt vor ihm.
»Wer bist du?«, flüsterte ich.
»Seth, Seth – warte doch!«, schrie Ruby, die hinter uns herrannte, während sie gleichzeitig ein Ringbuch in ihre Tasche stopfte. »Kommst du nicht mit zu Geschichte?« Seth nahm die Hand von meiner Schulter. Ruby warf mir einen drohenden Blick zu und ich sah betreten nach unten.
»Nein, ich habe jetzt Chemie«, sagte er.
»Aber ich bin sicher …«, begann sie, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, anscheinend habe ich mich vertan … Beeil dich lieber – Burleigh wird wild, wenn man zu spät kommt.«
Sie drehte sich um und Seth beeilte sich, um mit mir Schritt zu halten. Ich sah konsequent nach unten und presste meine Schultasche an die Brust. Sein Blick eben, die Art, wie er michangesehen hatte, hatte etwas in mir ausgelöst … eine Erinnerung? An einen Traum? Ich konnte es nicht einordnen.
Ich musste ehrlich zugeben, dass ich von der Chemiestunde nichts mitbekam. In meinem Gehirn hatte es anscheinend einen Kurzschluss gegeben, jedenfalls konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Seth saß hinter mir und ich hatte – schon wieder – das Gefühl, als würde er etwas ausstrahlen, eine starke magnetische Energie. Deshalb brauchte ich all meine Willenskraft, um mich nicht umzudrehen.
Man kann sich nicht eine ganze Unterrichtsstunde einer magnetischen Energie erwehren und gleichzeitig einen adiabatischen Vorgang verstehen. Das klappt einfach nicht. Und obwohl ich einen Sethfreien Nachmittag hatte, musste ich immer wieder an ihn denken. Danach war ich so weit, dass ich den Stufenleiter um einen neuen Stundenplan bitten wollte. Ich konnte keine Kurse besuchen, an denen dieser Junge teilnahm. Er brachte mich völlig durcheinander.
Als ich schon fast am Lehrerzimmer angekommen war, schrie jemand hinter mir: »Eva! Falsche Richtung!«
Ich drehte mich um. Astrid lief über den Innenhof zum Musikflügel. Es war kurz vor halb fünf, Zeit für die letzte Probe vor dem Gig heute Abend. Es war unser erstes Konzert seit einer halben Ewigkeit, genau genommen seit meinem Krankenhausaufenthalt. Also drehte ich wieder um und holte Astrid ein. Dann musste ich das eben irgendwie morgen vor der Schule regeln.
An diesem Abend wollten wir meinen neuen Song zum ersten Mal spielen. Dienstag hatte ich endlich allen Mut zusammengenommen und ihn Astrid vorgespielt.
»Mann, Eva!« Astrid hatte den Kopf geschüttelt.
Ich hatte es geahnt, sie würde ihn in der Luft zerreißen. Wie dumm von mir, ihn ihr vorzuspielen – ich konnte einfach keine Songs schreiben.
»Für die Tonne, oder?«, seufzte ich und setzte die Gitarre ab.
»Nein, Eva. Im Gegenteil. Ich wusste gar nicht … dass du zu solchen Gefühlen fähig bist. Kenne ich ihn?«
Ich musste lachen. »Ich kenne ihn selbst nicht. Leider.«
Dennoch hatte ich mich seltsamerweise bereit erklärt, den Song heute Abend zu spielen.
Verloren
St. Magdalene’s
2013 n. Chr.
Die Chemiestunde war fast mehr, als Seth ertragen konnte – mit ihr, nur eine Handbreit entfernt. Es fühlte sich an, als erlaubte ein zürnender Gott sich einen Scherz auf seine Kosten. Dass er hier zufällig über sie gestolpert war, über das Mädchen, dass er über alles geliebt und so schmerzlich verloren hatte, nur um zu erfahren, dass sie unerreichbar war … nicht länger zu ihm gehörte. Sie hatte einen anderen Namen. Sie kannte ihn nicht, er war ihr vollkommen fremd. Es war unerträglich.
Als es nach der Stunde endlich geklingelt hatte und sie ohne einen Blick vor ihm davongelaufen war, konnte er ihr, von Traurigkeit und Enttäuschung überwältigt, nur noch hinterhersehen.
Am Ende des Unterrichtstages ging es ihm so schlecht wie nie. Langsam packte er seine Bücher ein und überlegte, ob er es überhaupt versuchen sollte, sie zu finden. Doch dann stand schon wieder diese laute, große Blondine neben ihm.
»Seth!«, hauchte sie. »Wie ist dein Nachmittag gelaufen?«
»Gut«, murmelte er und ging zur Tür. Er hatte es sich überlegt – ja, er würde sie suchen.
»Warte, Seth! Komm mit, jetzt gibt es Tee.«
Das blonde Mädchen hatte ihn eingeholt.
»Tee?«, wiederholte er.
»Komm schon!« Sie schleppte ihn über den Innenhof zum Speisesaal. Unterwegs ließ er suchend den Blick schweifen, doch Livia war nirgends zu sehen. Vielleicht war sie auch im Speisesaal? Er ließ sich mitziehen. Der große Saal war voll, alle standen für Getränke an. Seth sah
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