Toedliches Verlangen
oder?«
Myst biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, wie viel sie ihrer Freundin erzählen sollte. Sie war dankbar für ihre Anteilnahme – das war sie wirklich –, aber Tania machte sich ständig Sorgen. Sie würde wieder bis zum Morgen wach liegen und sich mit dem Gedanken quälen, dass diese Nachtaktion Myst vielleicht in Schwierigkeiten bringen könnte.
Die Stille in der Leitung wurde unerträglich.
Tania seufzte. Das Geräusch wirkte wie die Brandung des Ozeans, es unterspülte Mysts Entschluss zu schweigen. »Du solltest nicht allein dort draußen sein.«
»Ich kann es nicht einfach dabei belassen, Tan. Sie hat drei Termine verpasst. Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Was, wenn er zurückkommt?«
»Erst recht ein Grund, nach ihr zu sehen … Caroline kann sich gegen diesen Typen nicht durchsetzen.« Nur daran zu denken machte sie schon wütend. Dieser brutale Scheißkerl. Okay, er hatte ihre Patientin nie wirklich geschlagen, aber sie hatte gehört, wie er mit ihr sprach – sie erniedrigte –, und das war nicht schön gewesen.
»Du hast die örtliche Polizeiwache in der Schnellwahl gespeichert, ja?«
»Die Rettungssanitäter auch.«
»Ach verdammt, ich hasse es, wenn du das tust«, sagte ihre Freundin, Angst ließ ihre Stimme hohl klingen.
Myst antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen? Dass sie umdrehen und nach Hause kommen würde? Dass Tanias Sorge um sie wichtiger war als eine Patientin, die Hilfe brauchte?
»O Gott, es tut mir leid. Du weißt, dass ich mir ständig Sorgen mache und …«
»Dass du eine echte Nervensäge bist«, erwiderte Myst mit einem Lachen, um der Stimmung den Ernst zu nehmen.
»Das gilt für dich genauso, Süße.« Tania schnaubte, dann musste sie lachen. »Okay, ruf mich an, wenn du es hinter dir hast. Und pass auf dich auf.«
»Mach ich … versprochen.« Myst legte auf und startete den Motor.
Als sie von Sals Parkplatz fuhr und ihre Scheinwerfer den Asphalt erhellten, blieben ihre Gedanken bei Caroline Van Owen hängen. Achtzehn Jahre alt und schwanger. Das Mädchen hatte keine Chance. Nicht mit ihrem schlechten Schulabschluss und einem Partner, der sie nicht unterstützte. Myst hatte schon so viele gesehen wie Caroline. Und es brach ihr jedes Mal das Herz.
Ihre Kollegen würden sagen, es gehe sie nichts an, dass sie ihre Arbeit machen und sich aus den persönlichen Sachen heraushalten sollte. Aber ganz gleich, wie sehr sie es versuchte, sie nahm es einfach persönlich, dass Caroline so gekränkt wurde. Vielleicht war es dumm, aber ihre Klienten waren mehr als nur Patienten. Es waren Menschen, die ihr am Herzen lagen. Sie hatte in ihren Küchen gesessen, Kaffee und Croissants geteilt, zugehört, gesprochen und Rat gegeben – zu weit mehr als medizinischen Sorgen.
Das Krankenhaus sah sie als Dienstleisterin. Und das war sie auch, größtenteils. Es hatte angefangen, um den Zulauf ambulanter Patienten und die Administration der Station in den Griff zu bekommen. Nun war so viel mehr daraus geworden.
Weit mehr, als sie erwartet hatte.
Sie bog in die Auffahrt zu den Van Owens ab. Es war eher eine unbefestigte Straße als eine Auffahrt, der lange Weg wand sich zwischen Rotzedern und Zirbelkiefern hindurch. Grasbüschel wuchsen in der Mitte zwischen den ausgefahrenen Spurrillen. Als ihre Scheinwerfer um die letzte Kurve schwenkten, beugte sie sich über das Lenkrad und sah angestrengt nach vorne. Erleichtert seufzte sie auf, und doch lag ihr die Besorgnis weiterhin wie ein Stein im Magen.
Es war jemand zu Hause. In der Küche brannte Licht.
Jetzt war nur noch die Frage: War es der Scheißkerl? Oder Caroline?
Myst hoffte auf Letzteres. Sie musste selbst nach dem Mädchen sehen. Um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war, und sie wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. Im achten Monat und an der Grenze zum Schwangerschaftsdiabetes konnte Caroline es sich nicht erlauben, leichtsinnig zu werden. Die letzten Blutuntersuchungen hatte sie verpasst, und die vorliegenden Werte sahen nicht gerade gut aus.
Eine Blutplättchen-Anomalie wie die ihre hatte Myst noch nie gesehen. Das Labor war dran, doch bisher fehlte noch jeder Anhaltspunkt.
Sie parkte neben einem alten Traktor mit platten Reifen, warf den Schlüsselbund in den Becherhalter, griff nach ihrer Tasche und ging Richtung Veranda. Das alte Cape-Cod- Haus wirkte fehl am Platz, hier mitten im Wald an der Westküste: Ausgeblichene gelbe Farbe blätterte von den Wänden, die Dachrinne war abgesackt, im
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