Töte, Bajazzo
von oben nach unten.
Sie raste herab wie ein Fallbeil, so daß der Mann unwillkürlich zurücksprang, obgleich das Messer nicht in seine unmittelbare Nähe gelangt war. Er stieß gegen den Stuhl, der umflog.
Zum erstenmal konnte Benito Kraus wieder richtig denken. Da funktionierte die Blutzufuhr, die ihm vorher wie abgeschnitten vorgekommen war. Und seine Gedanken beschäftigten sich wie schrille Irrläufer mit der eigenen Rettung.
Es gab nur eine Chance für ihn.
Die Flucht!
Was hatte der Hausmeister ihm geraten? Die Tür Nummer drei zu nehmen, sie war nicht verschlossen, und Kraus wußte auch, wie er dorthin gelangte. Allerdings mußte er eine gewisse Strecke zurücklegen.
Hätte er Zeit gehabt, wäre es nicht tragisch gewesen, so aber mußte er sich erst orientieren und vor allen Dingen die unterwegs angebrachten Lichtschalter finden, was im Normalfall kein Problem gewesen wäre.
Als er zurückging, zitterten ihm die Knie. Die Knochen schienen sich in eine weiche Puddingmasse aufgelöst zu haben. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Laufen, die Füße schleiften über die Bühnenbretter.
Den Schreibtisch ließ er hinter sich. Damit hatte auch das Licht seine unmittelbare Nähe wieder verlassen, aber die verdammte Maske war noch da.
Sie tanzte ebenso wie das Messer, als würde sie einer eigenen Melodie lauschen. Er konnte wegen der Dunkelheit auch nicht erkennen, ob sie näher an ihn herangekommen war oder nicht, für ihn war jetzt nur wichtig, die richtige Gasse zu finden, in die er hineinschlüpfen mußte, um sicher den hinteren Teil der Bühne zu erreichen, bevor das Grauen ihn vernichtete.
Die Gasse fand er sicher. Freude durchzuckte ihn zum erstenmal, auch deshalb, weil er die beiden Verfolgen nicht mehr sah. Sie blieben tief in der Finsternis zurück. Vielleicht hatten sie aufgegeben und…
Der Schmerz zuckte durch sein Schienbein. Einen Moment später fiel er nach vorn, kam sich vor wie von einem Katapult abgefeuert und landete auf den Händen, denn die Arme hatte er in einem Reflex ausgestreckt.
Die Handballen schrammten über den Boden. Kleine Splitter bohrten sich in das Fleisch. Er unterdrückte mühsam einen Schmerzensschrei und dachte daran, daß in diesem Teil der Bühne zahlreiche Dekorationsstücke herumstanden, die eben diese gefährlichen Hindernisse bildeten.
Benito Kraus raffte sich auf und lief weiter. Der verfluchte Lichtschalter ging ihm nicht aus dem Sinn, der war irgendwo an der Wand befestigt, die allerdings hatte er noch nicht erreicht, und er taumelte zunächst in die entsprechende Richtung. Irgendwann würde er gegen sie prallen, deshalb streckte er die Hände aus, um sein Gesicht zu schützen.
Er fand den Widerstand.
Ein Ruf der Erleichterung drang aus seinem Mund. Hier an der Wand waren auch die Türen zu finden und natürlich die entsprechenden Lichtschalter. Er mußte sich nur bewegen, mal nach links, dann wieder nach rechts. Die Wahrscheinlichkeit war groß, daß er den einen oder anderen Schalter fand und ihn kurzerhand umlegte.
Er schaute nicht zurück. Die Angst peitschte ihn voran. Kraus wollte nicht wahrhaben, daß ihm etwas Unheimliches auf den Fersen war, für das er keine Erklärung hatte.
Ein Windzug streichelte seinen Nacken.
Das war er, das mußte er sein.
Kraus duckte sich und ließ sich zugleich in die Knie sacken. Sein Gehirn hatte ihm diesen Befehl nicht gegeben, es war der reine Überlebensimpuls gewesen.
Als er auf den Boden prallte, hörte er über sich das helle Klirren. Mit einem harten Geräusch hatte das Messer nicht seinen Körper, sondern die Wand erwischt. Gleichzeitig wußte Benito jedoch, daß es dieses Etwas auf sein Leben abgesehen hatte.
Er ließ sich fallen, rollte sich auf dem Boden herum, schaute nach oben und sah die grellweiße Maske zum Greifen nahe über sich. Aber auch das Messer.
Da schrie er schrill und laut.
Nur wollte und konnte niemand sein Schreien hören, und das Messer jagte nach unten. Es packte zu, von unsichtbaren Kräften geführt.
Immer und immer wieder.
Und eine Tenorstimme verballhornte die große Auftrittsarie des Canio, in der es hieß: Lache, Bajazzo…
Diesmal war der Text etwas anders, doch es reichte aus, und es entsprach auch den Tatsachen.
»Töte, Bajazzo….«
Wir saßen wieder an der Bar, wo wir einen Kaffee tranken. Wir hatten uns zwei Kannen bestellt und tranken die braune Brühe aus silbernen Gefäßen.
Ich kannte die Geschichte der Sängerin, die neben mir saß und ihren Kopf gesenkt hielt.
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