Töte, Bajazzo
bis er zusammenbrach. Das durfte Mirella auf keinen Fall, sie mußte stark sein, und ich wußte auch, daß es starke Frauen gab, oft stärker und mutiger als die sogenannten harten Kerle, zumindest was die Psyche anging.
Mirella ließ die Arme wieder sinken. Sie sprach. Ihre Stimme klang gebrochen. »Ich habe es gewußt, John. Ich kam in dieses Haus, ich sah meinen toten Vater, und da wußte ich, daß auch meine Mutter nicht mehr am Leben war. Vater hätte sie sonst beschützt. Er war immer ein Familienmensch. Für meine Mutter und seine drei Kinder hat er alles getan. Ich habe noch zwei Brüder, die woanders leben und von nichts erfahren haben. Aber diese Taten gehen nur mich etwas an, denn sie sind allein wegen mir geschehen und nicht wegen einer anderen Person. Hier geht es nur um mich, John, und um meine Vergangenheit, die etwas über zehn Jahre zurückliegt.«
Die Sängerin hatte sich sehr zusammengerissen, um diesen kompakten Bericht abgeben zu können. Nun mußte sie eine Pause einlegen, sie trank Wasser und fing sich wieder. Tief und sehr laut atmete sie durch.
Dann hob sie die Schultern. »Ich weiß, daß es weitergeht, daß ich jetzt stark sein muß. Und ich möchte meine Mutter auch noch nicht sehen. Später vielleicht, im Moment würde mich der Anblick zu sehr aus der Bahn werfen. Sie verstehen das, John?«
»Sicher, das ist mir klar.«
Mirella Dalera nickte. »Also warten wir auf den Mörder, warten wir auf die Maske und den Körper, der eigentlich keiner ist. Wir werden auf Franco Romero warten.«
»Bitte!« Fast wäre ich hochgesprungen, so sehr hatte mich ihre letzte Aussage überrascht.
»Ja, auf Franco Romera, John. Sie haben richtig gehört. Ich kenne den Mörder. Ich kenne ihn, aber ich weiß auch sehr genau, daß er schon seit einigen Jahren tot ist und nebenan auf dem Friedhof begraben liegt. Das sind die Tatsachen.«
Ich schwieg. Einen Grund, ihr nicht zu glauben, hatte ich nicht. Aber ich hätte gern von ihr eine Erklärung gehabt, und das erkannte auch Mirella an meinem überraschten Gesicht.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich werde Ihnen die Zusammenhänge sagen. Und dann können Sie noch immer entscheiden, ob Sie mich für eine Spinnerin halten oder nicht. Aber aus meiner Sicht habe ich recht, ich muß einfach recht haben, denn es gibt keine andere Erklärung, auch wenn sie unglaublich klingt.«
»Bitte.«
Sie trank wieder einen Schluck Wasser und fing an zu sprechen. Mit leiser Stimme redete sie, als wollte sie sich dieser düsteren Umgebung anpassen. »Es fing zwar nicht mit der Oper ›Der Bajazzo‹ direkt an, aber sie war das Schlüsselerlebnis für einen jungen Mann namens Franco Romero. Er war schrecklich in mich verliebt. Ich war siebzehn, er zwanzig. Er war vor Liebe blind, wie man so schön sagt. Er betete mich an, ja, er hat tatsächlich vor mir auf den Knien gelegen, aber ich konnte ihn doch nicht erhören. Man hat mich entdeckt, mein Gesangstalent, ich wollte hier in Maiori nicht versauern, sondern mit dieser Stimme die Welt erobern, John.«
»Das hat Franco nicht verstanden.«
»Natürlich nicht. Er wollte, daß ich in Maiori blieb. Er wollte die Hochzeit. Er wollte mich, er wollte Kinder. Es war ja alles legitim, ich habe ihm das auch gesagt, aber ich erklärte ihm, daß ich diesen Weg nicht gehen konnte.« Sie hob die Arme und ließ sie wieder sinken. Ihre Hände fielen auf die Oberschenkel. »Bei mir war der Weg bereits vorgezeichnet gewesen. Mein Förderer hatte mir klargemacht, daß diese Stimme der Welt gehören müßte. Es klingt zwar übertrieben, damals war ich glücklich, es zu hören.«
»Was passierte?«
»Wie ich schon erwähnte«, murmelte sie. »Es war die Oper Bajazzo, die wir hier aufführten. Ich sang und spielte die Nedda, Bajazzos ungetreue Ehefrau. Es sollte meine Abschiedsvorstellung werden, hier in Maiori, und es gab wohl keinen Einwohner, der uns nicht zuhörte. Auch Franco befand sich im Publikum, er saß sogar in der ersten Reihe. Noch heute kann ich mich an sein Gesicht erinnern. Er will mir nicht aus dem Sinn. Er starrte immer nur mich an, er erlebte und durchlebte diese Geschichte, und ich hatte immer mehr das Gefühl, daß er sich als der betrogene Canio ansah. In der Oper bringt Canio die Nedda durch einen Messerstich um, und das hat er sich genau gemerkt. Nach der Vorstellung war ein Fest organisiert worden, ein Abschiedsfest für mich, und Franco kam auf mich zu, noch immer diesen Blick in den Augen, vor dem ich mich fürchtete.
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