Toete John Bender
sogar mit Wolfgang. Ihm würde er klare Grenzen setzen und klare Aufgaben geben müssen und mit Können seinerseits und etwas Einsicht andererseits würde Wolfgang die Erlebnisse dieses Wochenendes in Erfahrungen umwandeln. Sascha schien ihm umgänglich und aufgeschlossen, Frederik hingegen still und zurückhaltend. Silvia … sie trug eine Windjacke, eine Shorts und Sneaker. Unauffällig genoss Tom den Anblick ihrer Beine und fragte sich, wie natürlich sie wirklich war. Rasierte sie sich? Wenn ja, wo und wie viel? Lackierte sie sich die Fußnägel? Wenn ja, welche Farbe bevorzugte sie? Er riss sich aus seinen erotischen Gedanken. Doris! Doris konnte er bisher am wenigsten einschätzen. Etwas bedrückte sie und er fragte sich, ob es für seine Arbeit wichtig war, es in Erfahrung zu bringen. Oder ob er zum Wohl der Gruppe ihre Gefühlslage ignorieren sollte, um nicht noch ein emotionales Drama heraufzubeschwören. Sie starrte teilnahmslos auf die See und ihr Blick verhieß eine tiefsitzende Sorge.
***
D oris erinnerte sich.
Sie war nach einem Klingeln mit dem Duft von Wacholder in der Nase aufgewacht, fuhr erschrocken hoch und sah sich um. Das Klingeln erstarb, der Wacholderduft verweilte hartnäckig, ohne dass es eine Erklärung für ihn gab. Weder hatte sie Wacholderzweige oder -beeren im Schlafzimmer oder überhaupt irgendwo in ihrem Feriendomizil auf Usedom drapiert, noch konnte dieser Duft so konzentriert durch einen geöffneten Zugang strömen.
Sie stand auf, schlich zum Fenster, sah auf den milden Wellengang der Ostsee, reckte ihren Kopf in die Höhe und sog Luft ein. Meeresgeruch. Kein Wacholder. Und auch das Klingeln, welches sie geweckt hatte, konnte sie nicht einordnen. Es war der schrille Klang eines nostalgischen Telefons, wie man es aus alten Schwarz-Weiß-Filmen kennt, aber kein elektronisches Gerät in ihrem Haushalt erzeugte einen ähnlichen Klang. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, verdrängte die störende Erinnerung. Doch ein beklemmendes Gefühl blieb, so wie sie es kannte, wenn sie von einem Albtraum heimgesucht worden war. Sie sah zum Bett, in dem Joachim, ihr Mann, noch schlief. Zwei Wochen hatten sie Urlaub, nur sich und keine Termine. Nikola, ihre sechzehnjährige Tochter war zuhause geblieben. Joachim hatte am dritten Tag das Gefühl gehabt, ihm würde die Decke auf den Kopf fallen und er hatte beschlossen, den Garten auf Vordermann zu bringen. Heute wollte er die Stämme der Fichten und Buchen, die er beim Ausdünnen des kleinen Waldes gesägt hatte, zu Kaminholz zerkleinern und es anschließend einlagern. Doris hatte sich nichts vorgenommen. Vielleicht Mankell lesen, spazieren gehen, den Tag auf sich zukommen lassen. Aber das Unbehagen, das sie beschlich, ließ sich weder begründen, noch vertreiben. Sie beschloss, den Tag zu beginnen und auf ihre Intuition zu achten. In der Küche setzte sie Kaffee auf. Der Duft lockte Joachim an, der sie begrüßte und der tatendurstig den Frühstückstisch deckte.
»Was ist?«, fragte er und setzte Wasser für die Eier auf.
»Ich weiß nicht genau. Ich bin vielleicht mit dem falschen Fuß aufgestanden.«
Er nickte, setzte sich und blätterte durch die Werbebeilage eines Baumarktes.
»Pass heute auf dich auf, ja?«, sagte sie.
Ihre Blicke trafen sich, Joachim lächelte.
»Hast wieder eine Vorahnung, was?« Die Prise Ironie in seiner Stimme ließ sie auffahren.
»Mit dem Tannenbaum hatte ich recht!«, verteidigte sie sich.
»Und mit den etlichen anderen Malen hast du mich unnötig aufgescheucht.«
Hätte er nicht dieses Funkeln in seinem Blick getragen, das seine Liebe zu ihr und seinen Humor zeigte, würde sie mit ihm gestritten haben, so aber zog sie ihn zu sich und küsste ihn auf seine Nasenspitze.
»Pass einfach auf dich auf mit deinen zwei linken Händen.«
Während sich Joachim in Arbeitsmontur in den Garten begab, las sie auf dem Sofa und ging später an den Strand spazieren. Das diffuse Unbehagen wurde ihr zu einem treuen Begleiter. Sie rief Nikola an und vergewisserte sich, ob alles in Ordnung war. Ihre Tochter reagierte ähnlich wie Joachim, nur gereizter. Doris beherrschte und verabschiedete sich, ihr treuer Begleiter hatte derweil Verstärkung geholt. Kopfschmerzen, ein schrilles Pfeifen und der Geruch von Wacholder suchten sie mit einem Grad an Heftigkeit heim, wie sie ihn nach all ihren Ahnungen bisher noch nicht erlebt hatte. Neben ihre Sorge um andere, verursacht durch ihre vermeintliche hellseherische Kraft,
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