Toete John Bender
hatten die fremden, mitunter exotischen Sinneseindrücke nachgelassen, wenn das prophezeite Ereignis eingetreten war. Jetzt aber roch es, nein – roch sie, immer noch den intensiven Duft des Wacholders und ihr Kopf schmerzte nach wie vor. Sie fragte sich, ob es an der Schwe-re des Ereignisses lag und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Später am Abend erhielt sie einen Anruf von Nikola. Ihre Tochter konnte keine Worte finden und schluchzte.
»Schatz, Nikola, was ist los?«, fragte Doris und vermutete, dass bei ihrer Tochter erst jetzt der Schock über den Unfall eingesetzt hatte.
»Mama? Dein Bruder ist gestorben … Günter ist tot!«
Günter ist tot. Sie erinnerte sich an diesen Satz, der auf ewig konserviert und abrufbar in ihr schlummerte und nach wie vor verursachte die Erinnerung ein beklemmendes Gefühl. So beklemmend, dass sie sich unvermittelt an die Reling des Bootes klammerte und ihr schlecht wurde. Wie damals bahnten sich Kopfschmerzen an, schlichen am Rande der Hirnhaut herum, um später zuzustechen. Wie damals hatte sie einen Geruch in der Nase, dessen Ursache nicht in der Umgebung liegen konnte. Es war nicht der Geruch von Wacholder, sondern ein Geruch, den sie nicht eindeutig zuordnen konnte. Am ehesten war er ihr vom Kochen vertraut. Es war der Geruch von rohem Fleisch.
***
T om stellte den Motor ab und ließ das Boot ein paar Augenblicke mit den Wellen weiter an den Strand treiben. Ehe es aufsetzte, sprang er ins knietiefe Wasser und griff sich das Tau, das am Bug befestigt war. Jens folgte ihm, und gemeinsam zogen sie das Boot samt der Passagiere durch das Wasser.
»Da, oder?«, fragte Jens und deutete auf eine Düne, die mit Sanddorn bewachsen war.
»Genau«, antwortete Tom, unzufrieden mit der Unsicherheit seines Assistenten. Eigentlich hätte Jens nicht mehr nachzufragen brauchen.
»Wir sind gleich da!«, rief er den anderen zu. »Und den Grund, weswegen dieser Teil der Ostsee ›Dänische Südsee‹ genannt wird, seht ihr hier.« Er ließ das Tau los, drehte sich mit ausladenden Armen um die eigene Achse und deutete auf das azurblaue Wasser, den beinahe weißen Strand und das Zusammenspiel der intensiven maritimen Farben.
Das Boot lief knirschend auf Grund, Jens ging weiter voran und war kurz davor, den Strand zu betreten. Tom fluchte innerlich und eilte ihm so unauffällig wie es ging hinterher.
»Jens!«, zischte er.
Keine Reaktion.
»Jens!«, dieses Mal lauter.
Endlich drehte sich Jens ihm zu, sodass Tom ihn einholte und zurückhielt: »Merk dir das! ICH betrete als Erster diese Insel und verlasse sie als Letzter, verstanden!«
Tom konnte dieses Ritual nicht erklären, aber es war ihm zu einer ehernen Regel geworden und er strafte jeden, der sich – auch unwissentlich – seinem Gebot widersetzte. Jens schien sich an Dutzende Ermahnungen seines Vorgesetzten zu erinnern, nickte und ließ Tom den Vortritt. Innehaltend schloss dieser die Augen und ging die paar Meter durch das flache Wasser, bis er das feste Land des idyllischen Eilands als Erster betrat. Er wusste nicht, dass kurz vor ihm noch etwas die Insel betreten hatte.
Gemeinsam zogen sie das Boot an Land, entluden es, trugen es dann auf den Strand und legten es quer. Das gemeinsame Arbeiten verdrängte Doris' Sorgen ein wenig, wie Tom bemerkte. Anschließend setzte er sich in den Sand und winkte allen einladend zu, es ihm gleich zu tun. Frederik und Wolfgang holten sich Getränke dazu.
»Das war schon mal ein guter Anfang. Wenn wir so weiter arbeiten, können wir vielleicht noch nach dem Abendessen Schwimmen gehen.«
»Ach komm! Wir gehen doch sowieso Schwimmen, du willst nur das Team motivieren«, entgegnete Sascha spitzfindig und grinste. Er ließ Sand durch seine Hand rieseln und türmte ihn zu einem Häufchen auf. Wolfgang und Frederik lachten.
Tom wägte ab und ließ die persönliche Ebene zu. »Du hast recht. Es wäre auch Sünde, es nicht zu tun. Schwimmen, vor allem hier, ist eine einzige Wohltat für Körper und Geist. Überlegt mal, ob ihr solche Belohnungen für euch und eure Mitarbeiter im Arbeitsalltag bereithaltet.«
»Die Weihnachtsfeier«, murmelte Doris.
»Genau! Die Weihnachtsfeier könnte es sein. Könnte! Aber meistens stresst sie nur diejenigen, die sie planen müssen, und das merkt man diesem Fest häufig an.«
Tom spürte, dass sie darüber nachdachten. Es war leichter gesagt als getan, denn die Planung der eigenen Firmenweihnachtsfeier stand auch ihm bevor und er hatte immer noch keine
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