Toete John Bender
gesellte sich Angst. Angst davor, dass es sich nicht um die Nebenwirkungen einer besonderen Gabe handelte, sondern vielleicht um einen Hirntumor, dessen Wuchern sie auf diese Art zu verdrängen und erklären suchte. Sie kniff die Augen zusammen, hielt sich den Kopf und eilte den Strand entlang zurück. Gelegentlich verharrte und verkrampfte sie, wenn eine Welle des Schmerzes ihren Höhepunkt erreichte. Ihr Herz raste, ihre Atmung beschleunigte sich und sie ermahnte sich, durchzuhalten. »Du schaffst das, Doris. Nicht umfallen jetzt! Komm schon!«
Die Holztreppe, die über die Düne zu ihrem Haus führte, erklomm sie mühsam, indem sie sich am Geländer Stufe um Stufe hochzog. Wacholder! Sie sah Wacholderbeeren vor ihrem inneren Auge. Wacholderbeeren, die an einem Strauch hingen. Mehrere Sträucher!
Ihr Haus. Das strahlende Weiß der Fassade und das Herbstblau des Himmels frästen sich in ihr Gehirn und blieben dort haften, wie ein Gemälde, an das man sich immer wieder erinnern konnte.
Das Tor zum Garten. Wacholdersträucher lagen auf dem Boden, Nadeln, Laub und Sägespäne. Alles in ihrem Kopf. Sie keuchte und taumelte am Haus entlang. Blutgetränkte Sägespäne, blutgetränkte Wacholderzweige. Sie hörte die Kreissäge, die sich Joachim im letzten Herbst zugelegt hatte. Sie hatte das Kreischen des Motors die ganze Zeit gehört, wie sich das Sägeblatt gefräßig drehte. Doris stürzte zum Schuppen, der am Waldrand stand, bog um die Ecke und stand Angesicht zu Angesicht mit jenem Arbeitsgerät, das ihre Unruhe ausgelöst hatte. Der Torso eines Wacholderbaumes lag dahinter. Daneben lag Joachim, gebettet auf kleinen Ästen und Sägespänen, sein rechter Arm hielt schützend seine linke Hand geborgen. Das, was davon übrig geblieben war! Um die Kreissäge herum war das Holzmehl vom Blut rot gesprenkelt, vor dem ohnmächtigen Joachim breitete sich eine Blutlache aus. Aber am deutlichsten prägte sich Doris die durch einen Handschuh geschützte und doch durchtrennte Hand ein. Vier Finger und die Hälfte der Hand lagen als Klumpen zwischen Wacholderzweigen auf einem Haufen Sägemehl.
»Daumen und Finger gehören zusammen! Daumen und Finger gehören zusammen!« , wehklagte sie der Panik nahe, wiederholte es, wie ein beruhigendes Mantra und begann zu handeln. Sie drehte Joachim auf den Rücken und suchte nach etwas, irgendetwas, womit sie die fontänenartige Blutung stoppen konnte, die aus der Wunde pulsierte. Nichts! In ihrer Jacke suchte sie nach ihrem Handy und wählte den Notruf. Als sie am anderen Ende der Leitung eine Stimme hörte, drohte sie zu hyperventilieren. Schnell gab sie alle erforderlichen Daten durch und spürte einen Druck auf ihrer Brust, der ihr den Atem raubte. Ihr Gesprächspartner teilte ihr mit, spätestens in fünfzehn Minuten würde ein Rettungswagen eintreffen. Bis dahin solle sie alles versuchen, die Blutung zu stoppen und danach ihren Mann in die stabile Seitenlage bringen; der verletzte Arm müsse dabei hochgelagert werden. Wenn ihr dann noch Zeit bliebe, könne sie versuchen, die abgetrennte Hand zu bergen und zu ... Doris blickte zu dem Stück Fleisch, welches einmal Joachims Hand gewesen war. Jene Hand, die sie bei der Geburt ihrer Tochter gedrückt hatte, die sie gestreichelt und massiert hatte. Sie war sich der Notwendigkeit bewusst und unterdrückte den aufkeimenden Ekel. Gerade wollte sie fragen, wie sie Joachims Hand am besten anfassen könne, als sich die Finger des Stumpfes beugten und streckten … beugten und streckten …! Sie verlor das Bewusstsein, fiel neben ihren Mann und begrub die krampfenden Finger unter sich.
In der Klinik kam sie zu sich, erholte sich schnell und bestand darauf, aufzustehen. Joachim war operiert worden, die abgetrennte Hand hatte man nicht mehr annähen können, zu ausgefranst waren die Wunden gewesen, zu zersplittert die Knochen. Eine Axt wäre besser gewesen, meinte der Arzt. Sie telefonierte mit Nikola, die sofort zu ihnen aufbrechen wollte. Ihre Tochter gestand ihr gegenüber ein, dass Doris mit ihrer Vorahnung recht gehabt hätte und schluchzend versprach Nikola, nie wieder abschätzig darauf zu reagieren. Doris legte darauf keinen Wert, wusste, dass Nikola sich Vorwürfe machte, und beruhigte ihre Tochter.
Nach der Verabschiedung musste sie über ihre Gabe nachdenken. Sie verglich ihre bisherigen Vorahnungen miteinander, auf der Suche nach einem verlässlichen System, und kam zu dem Entschluss, dass es dieses Mal anders gewesen war. Bisher
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