Töten ist ganz einfach: Thriller (German Edition)
sechste Glas, stürzte es in einem Zug hinunter, der Alkohol trieb ihr Tränen ins Gesicht und sie schüttelte sich, als die brennende Flüssigkeit durch ihre Blutbahn raste. Ihre Augen pendelten zwischen Telefon und Ausdrucken hin und her, verharrten dann auf den widerlichen Fotos der Leichen. Sie fixierte sie mit ihren Augen solange, bis die Konturen verschwammen, bis sich die Bilder auflösten, bis nur noch eine undefinierbare Masse vor ihren Augen tanzte, bis sie glaubte, auf diese Weise alles ungeschehen zu machen, aus einem bösen Traum zu erwachen und in eine pastellige, sichere Welt zurückzukehren. Aber das war ein Irrtum.
Die Bilder waren Realität, genauso wie das Designtelefon, das sie höhnisch anzuschreien schien:
Ruf an! Verschaffe dir Klarheit! Suche die Wahrheit! Tatjana Drakovic wusste, dass sie jetzt ihren Vater Igor anrufen musste, ihm von den Bildern, besonders von dem letzten Bild, dem mit dem toten Mädchen und dem Kopf von Milan, erzählen und ihn fragen musste, welche Bewandtnis es damit hatte. Sie musste ihren Vater fragen, durfte sich nicht mit Smalltalk und Ausflüchten zufrieden geben, musste die Wahrheit erfahren.
Sie stürzte den Inhalt des letzten Wodkaglases hinunter, nicht mehr als sieben Gläser in einer einsamen Nacht hatte sie sich als Limit gesetzt, als Therapie gegen ihre Angst, gegen das Grauen, das sich in ihrem Denken eingenistet hatte. Aber wollte sie überhaupt die Wahrheit wissen? Wollte sie nicht einfach weiterleben, eingebettet in den weichen Kokon der Familie, wollte sie nicht die Sicherheit von Macht und Luxus? Denn was war sie ohne Bruder, Vater und Tante? Ohne ihre Familie war sie alleine, das wurde ihr schlagartig bewusst, als der Wodka ihr Denken schärfte, sie war alleine, hatte weder Liebhaber noch Freunde. Tatjana Drakovic war einsam, so einsam, dass sie manchmal schrie, wenn sie abends in ihr leeres Luxusapartment fuhr, die Eingangstür aufsperrte, um die grauenhafte Stille zu bannen, die ihr entgegenschlug. Es war wie eine Erlösung, wenn sie mit ihrem Vater, ihrem Bruder oder ihrer verrückten Tante telefonierte oder nach Palma de Mallorca auf eine Party flog. Dann spürte sie das Leben, glaubte für diese kurzen Momente im Schoß ihrer Familie für alle Zeiten sicher zu sein. Das wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Aber da gab es noch die Bilder und den Mord an ihrem Cousin Milan. Sie musste Klarheit haben!
Nach dem letzten Wodka fühlte sie sich stark genug, ihren Vater anzurufen. Nachdem sie die Kurzwahltaste gedrückt hatte, war sie jedoch wieder das kleine Mädchen, auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Sie wünschte sich zurück in eine Zeit, als das Grauen noch nicht ihre Gedanken verseuchte und die Einsamkeit weit weg war.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie die herrische Stimme ihres Vaters und begriff schlagartig, dass sie nichts sagen würde, dass wieder einmal nicht der richtige Zeitpunkt für die Suche nach der Wahrheit war.
*
„Ich, Igor Drakovic, schwöre, der Tod wird für den Mörder von Milan eine Gnade sein. Wer auch immer das getan hat, wird bitter bezahlen.“
Mit diesen Worten legte Igor Drakovic in seinem Stadtpalais in Palma de Mallorca den Hörer auf die altmodische Telefongabel. Seine Tochter Tatjana hatte mit ihm zunächst über den Mord an seinem Neffen diskutiert, war dann aber schnell wieder auf die neuen Clubs und Boutiquen von Palma zu sprechen gekommen, hatte den oberflächlichen Smalltalk mit einem „Die Familie muss jetzt zusammenhalten!“ und „Ich liebe dich, Vater!“ beendet und das hatte ihn gerührt.
Einige Zeit blieb er noch regungslos in seinem abgedunkelten Arbeitszimmer neben dem Telefon sitzen und Erinnerungsfetzen aus einer längst vergessenen Zeit tauchten auf, verschwanden wieder, ohne dass er sie zu einem klaren Bild formen konnte. Von draußen war gedämpfter Straßenlärm zu hören und durch die Ritzen der geschlossenen Holzläden drang das Mondlicht herein und warf messerscharfe Leuchtspuren auf den schwarzen Marmorfußboden.
Energisch stemmte sich Igor Drakovic aus dem üppig mit Golddekor verzierten Stuhl, riss die mit geschnitzten Intarsien versehenen hohen Flügeltüren auf und schaute von der Marmorgalerie hinunter in seinen privaten Innenhof. Das leise Geplätscher des Springbrunnens, das gespenstische Flügelschlagen von hunderten von exotischen Vögeln, die in riesigen Käfigen in den Arkaden im Erdgeschoß umherflatterten, vermischten sich mit der Stimme von Maria
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