Töten ist ganz einfach: Thriller (German Edition)
und ich kehre zurück in das andere Leben. Jetzt bin ich in der Lage, die Aufzeichnungen als Todesschrift, als Thanatografie zu verfassen.
Jetzt kenne ich mein Motiv: Rache.
1. Linz: Die erste Nacht
Tatjana Drakovic hatte bereits eine halbe Flasche Wodka getrunken, doch noch immer fand sie keinen Schlaf. Mit Ende dreißig hatte sie gemeinsam mit ihrem Bruder Bogdan den Vorsitz von Royal International inne. Das Unternehmen produzierte ursprünglich Haushaltsartikel, engagierte sich nun aber verstärkt in Immobiliengeschäften. Tatjana Drakovic war intelligent, selbstbewusst und unabhängig – Eigenschaften, die sie tagsüber glaubhaft vermitteln konnte. Doch dann gab es noch diese bleierne Zeit zwischen Mitternacht und Morgen.
Von der Terrasse des Penthouse in einem Nobelstadtteil von Linz hatte sie einen großartigen Blick über die Stadt. Weit hinten am Horizont, direkt am Fluss, glitzerten die bunten Fassaden des Museums und des Ars Electronica Centers. Die großen Glastüren zur Terrasse waren aufgeschoben und die Geräusche vereinzelter Autos auf der Stadtautobahn nur zu erahnen.
Der weitläufige Wohnraum des Apartments war hell erleuchtet. Auf der matt angestrahlten Kochinsel aus gebürstetem Stahl lag ein Umschlag, ein dünnes braunes Kuvert. Tatjana Drakovic umkreiste es bereits seit Stunden argwöhnisch. Sie hatte diesen Umschlag abends in ihrem Postkasten vorgefunden, so wie zahllose andere in den vergangenen Monaten. Beim Öffnen des Briefkastens hatte sie die Augen fest zusammengedrückt, so als könnte sie damit etwas ungeschehen machen, aber als sie die Augen öffnete, holte sie die Wirklichkeit in Gestalt eines dünnen braunen Umschlags ohne Absender wieder ein.
Jetzt lag der Umschlag auf der mattierten Oberfläche der Kochinsel und darunter – in einer Schublade – jene zahllosen anderen braunen Kuverts, aufgerissen und verknickt, manche zerknüllt, wieder geglättet und in die Umschläge zurückgestopft.
Langsam erhob sie sich aus der überdimensionalen Designer-Sitzlandschaft und schwankte auf die Kochinsel am anderen Ende des Raumes zu. Die Proportionen des Zimmers verschoben sich in ihrer Wahrnehmung und beinahe wäre sie an den Esstisch gestoßen. Sie riss sich zusammen, schüttelte ihre langen schwarzen Haare und lächelte mit ihrer charakteristischen Lücke zwischen den Schneidezähnen ins Leere. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, zog sie ihren weißen Bademantel eng zusammen und streckte das Kinn trotzig nach vorn.
Energisch packte sie den Umschlag und riss ihn wütend auf. Wie jedes Mal flatterte ein Laserausdruck auf handelsüblichem Kopierpapier auf die Arbeitsplatte. Wie jedes Mal war es ein Foto, wie jedes Mal dazu ein unverständlicher Text.
„Es ist der Obolus zu entrichten, nur dann ist der Fährmann bereit, den Fluss zu queren und an das andere Ufer überzusetzen.“
Doch etwas war dieses Mal anders. Dieses Mal erkannte sie die Person auf dem Foto.
*
Als Stefan Szabo erwachte, lebte er zu seinem eigenen Erstaunen noch. Der Traum, aus dem er soeben hochgeschreckt war, hatte ihn zutiefst verstört. Erst warf ihn ein Schlag zu Boden, dann stürzte eine undefinierbare Masse auf ihn, begrub ihn unter sich, so dass er keine Luft mehr bekam und ihn das Gefühl beschlich, sein Herz höre einfach auf zu schlagen. In diesem Moment erwachte er. Draußen herrschte noch tiefe Nacht. Verstört rieb er sich die Augen. Er war in seiner Kleidung auf einem Stuhl in seinem Wohnzimmer eingeschlafen. Seine schwarze Reisetasche lag noch auf dem Boden und sein iPod auf dem niedrigen Glastisch.
Hellwach tappte er aus dem Wohnzimmer und stieg die breite Treppe hinunter ins Esszimmer. Alle Besucher des „Tankers“ waren von dieser Treppe fasziniert. „Tanker“ hatten er und seine Frau das Haus genannt, als sie es kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag kauften. Mit seinem weit über die Wände heruntergezogenen schwarzen Dach und den schmalen hohen Fenstern erinnerte es tatsächlich an ein wuchtiges, düsteres Schiff. Doch innen war es großzügig und elegant, mit hohen Wänden und Marmorböden. Der ideale Rückzugsort für einen internationalen Kreativdirektor und seine Frau, eine exzentrische Fotokünstlerin. Dieses Haus wurde zu einem Fixpunkt, zu einer Konstanten in ihrem hektischen Leben. Ein Ruhepol, wenn sie aus den Metropolen dieser Welt zurückkamen in ihr beschauliches Linz, das klar und übersichtlich war, wenn sie sich in ihrem Haus verschanzten und taten, was sie schon
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