Toggle
die Menschen auf der Straße in Panik auseinanderstoben und sich die Autos in ziellosen Fluchtbewegungen ineinander verkeilten. Ein euphorisches Gefühl ergriff ihn. Er zog den Flieger hoch, um noch einmal eine Ehrenrunde über seinem gelungenen chirurgischen Eingriff zu drehen. Als er von der West- in die Südkurve schwenkte, damit er nördlich auf den Acker und die dahinterliegende Ortschaft Ormskirk zufliegen konnte, begann sein HUD verrückt zu spielen. Es projizierte nicht nur Instrumentendaten an die gewölbte Cockpitscheibe, sondern eine Art Dialog, Fetzen von Text in schneller Reihenfolge, keiner länger als 140 Zeichen. Sie enthielten Worte wie ›Argleton‹, ›Bombardement‹, ›Dritter Weltkrieg‹ und ›Mars Attack‹.
Was um Himmels willen hatten die Techniker von KinetiK mit dem Alpha Jet angestellt?
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Walter Weinberger begriff, dass der Stammpilot der Maschine während des Fliegens offenbar seine Twitter-Feeds verfolgte. Der Teufel wusste, wie er sie in das betagte Anzeigesystem einspeiste! In diesen Sekunden verlor Weinberger, der nie an die Fähigkeiten des Menschen zum Multitasking geglaubt hatte, die Kontrolle über den Jagdbomber. Er geriet mit der Maschine ins Trudeln, versuchte verzweifelt, sie wieder hochzuziehen, war dafür aber schon viel zu tief und zerrte in allerletzter Sekunde am Abzuggriff seines Schleudersitzes. Damit wurde er aus dem Cockpit herausgesprengt und sah noch, wie das schwarze Flugzeug in spitzem Winkel auf den von ihm selbst erzeugten Bombenkrater zuflog. Dann verlor er das Bewusstsein und bekam weder die laute Detonation der zweiten Brimstone-Rakete mit noch die Tatsache, dass sich der Rettungsfallschirm seines Schleudersitzes trotz seiner Zero-Zero-Performance zu langsam öffnete und er deswegen mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf den Erdboden zuraste. Das mehrere Hundert Kilo schwere Paket aus Schleudersitz und Pilot durchschlug das Dach der Villa, durchbrach die Zimmerdecke des ersten Stocks – was eindeutig gegen die Fertigbauweise sprach – und blieb schließlich zwischen Erdgeschoss und Keller stecken.
Lange bevor sich die Rettungseinheiten gegen die Ströme fliehender Passanten zum Unglücksort vorkämpfen konnten, erlag Walter Weinberger seinen inneren Verletzungen.
[Menü]
105
INTERMEZZO Neapel
Sonntag, 28. Oktober 1787
Sterben war kein ansehnliches Schauspiel, doch auf dem Landgut Santo Sorio am Fuße des Vesuvs hatte es die Form einer sentimentalen Abschiedsvorstellung angenommen. Von seiner Brustwassersucht und einem zwei Jahre zuvor erlittenen Schlaganfall gezeichnet, gab der 58-jährige Ferdinando Galiani zwar körperlich ein erbärmliches Bild ab, doch sein böser Witz funkelte wie in alten Tagen. »Die Toten langweilen sich ohne mich«, begrüßte er seine Besucher gern. »Und sie bitten mich, baldmöglichst zu ihrer Erheiterung zu erscheinen. Das werde ich ihnen nicht abschlagen, denn ich langweile mich ohne die Toten auch sehr. Lebende sind ein schwacher Ersatz.«
Unweigerlich folgte diesen Worten ein schwerer Hustenanfall.
In seiner Heimat war Galiani zum wohlhabenden Manne geworden. Nach seiner Rückkehr aus Paris hatten ihm immer mehr Sinekuren der Kirche und des neapolitanischen Königs das spottlustige Maul mit Zecchinen stopfen wollen, doch all der mit Posten und Pfründen verbundene Reichtum bewirkte beim Begünstigten nichts weniger als eine Verhärtung seiner ketzerischen Positionen.
Bitternis zerfraß seine Seele.
Fünf Jahre nach seiner Pariser Verbannung war Ludwig XV . gestorben, und für einen kurzen Moment hatte es so ausgesehen, als beriefe sein Enkel den Baron de Breteuil – den französischen Gesandten in Neapel – zu seinem Außenminister. Damit hätte Ferdinando Galiani im Triumphzug nach Paris zurückkehren können, denn der Baron schätzte seinen Rat wie seine persönliche Gegenwart. Doch der linkische junge König, ein wachsweicher Frömmler ohne jedes Laster, ließ sich die Personalie von alten Hofschranzen ausreden, so wie er sich von denselben Intriganten die komplette Wiederermächtigung des Parlements einreden ließ, womit er den zeitweiligen Terraingewinn seiner beiden Vorgänger mit einem Federstrich annullierte. Binnen kürzester Zeit war der junge Ludwig XVI . hoffnungslos zwischen den alten Mächten im Staat zerrieben – dem Adel, dem Klerus und der Advokatenschaft – und besaß noch weniger Handlungsspielraum als sein ohnehin schon zögerlicherGroßvater.
Weitere Kostenlose Bücher