Tokio Vice
Freundschaft mit einer von Gotos Geliebten. Kurz bevor sie im Mai 2008 Japan verließ, trafen wir uns noch einmal auf dem internationalen Flughafen Narita. Ich schimpfte über Goto, und sie hörte geduldig zu. Wahrscheinlich hasste sie ihn mehr als ich. Mitten in meiner Tirade unterbrach sie mich.
»Jake, haben Sie je daran gedacht, dass sie ihn so sehr hassen, weil Sie ihm ähnlich sind?«
»Nein, das habe ich noch nie gedacht.«
»Ihr seid beide arbeits- und adrenalinsüchtige, schamlose Frauenhelden mit starker Libido. Ihr trinkt zu viel, ihr raucht zu viel, und ihr fordert Loyalität. Ihr seid großzügig zu euren Freunden und rücksichtslos zu euren Feinden. Ihr tut alles, um zu bekommen, was ihr haben wollt. Ihr seid euch sehr ähnlich. So sehe ich Sie.«
»Das glaube ich nicht.«
»Denken Sie darüber nach.«
»Wollen Sie damit sagen, dass wir Zwillinge sind?«
Sie lachte. »Nein. Es gibt zwei große Unterschiede.«
»Da bin ich aber erleichtert. Welche sind es?«
»Sie genießen es nicht, wenn andere leiden, und Sie hintergehen Ihre Freunde nicht. Das sind gewaltige Unterschiede.«
Se küsste mich leicht auf die Wange und ging zur Sicherheitskontrolle und zu ihrem Flugzeug. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich glaube, es geht ihr sehr gut in ihrem neuen Leben.
Früher einmal wollte ich buddhistischer Priester werden. Ich wollte ein guter Mensch sein, etwas für die Welt tun. Als ich im Tempel lebte, versuchte ich es. Ich rauchte nicht, ich trank nicht, ich versuchte, den Edlen Pfad zu gehen. Sehr erfolgreich war ich damit nicht.
Am 8. April 2009 legte Tadamasa Goto in einem Tempel in Kanagawa das buddhistische Gelübde ab und begann ein Studium, um Priester zu werden. Natürlich war das mehr ein Publicitygag als der ernste Wunsch, für all das Elend Buße zu tun, das er angerichtet hatte. Er wartete gerade auf seinen nächsten Prozess und wollte wahrscheinlich einen guten Eindruck auf den Richter machen. Gerüchten zufolge hat die Führung der Yamaguchi-gumi ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt – denn er weiß zu viel und ist dafür bekannt, dass er Geschäfte mit der Polizei macht. Vielleicht glaubt er, dass es dem Image der Mafia schaden könnte, einen Priester zu ermorden, oder er hofft, dass ein Rosenkranz ihn ebenso gut schützen kann wie eine kugelsichere Weste. Vielleicht bereut er aber sein bisheriges Leben wirklich, nachdem er seine Macht verloren hat und in Todesangst leben muss.
Trotzdem ärgert es mich ein wenig. Ich finde es blasphemisch.
Aber wenn er wirklich Schuldgefühle hat, wenn er echte Reue empfindet – nun, dann wünsche ich ihm alles Gute.
Ich weiß, dass ich als guter Mensch anfing. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es geblieben bin.
Ich bereue nicht viel. Vielleicht habe ich ja als Spielfigur begonnen, aber ich habe das Spiel gespielt, so gut ich konnte. Ich habe Gift mit Gift bekämpft und mich dabei wohl selbst vergiftet. Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich habe versucht, meine Leute zu schützen, und meine Arbeit getan, und letztlich ist das eine Art Sieg.
Ich finde es erstaunlich, dass er und ich Amateurbuddhisten sind. Bei ihm dürfte es eher Berechnung als Glaube sein. Andererseits – vielleicht hat er wirklich ein schlechtes Gewissen. Möglich wäre es.
Ich lese gerne buddhistische Sutras, obwohl ich kein Konvertit bin. Ich glaube nicht an Karma oder Reinkarnation. Ich würde gerne daran glauben, würde gerne glauben, dass das Böse bestraft und das Gute belohnt wird, dass die Liebe den Hass und die Wahrheit die Lüge besiegt und jeder bekommt, was er verdient. Wenn man sich in der Welt umschaut, muss man kein Zyniker sein, um zu erkennen, dass dies leider nicht der Realität entspricht.
Vielleicht liegt es an meiner jüdischen Erziehung, dass ich die Strenge des traditionellen Buddhismus schätze. Die einzige Möglichkeit, Fehler wiedergutzumachen, besteht darin, das Richtige zu tun. Ein »Tut mir leid« genügt nicht. Es gibt keine Freikarte aus dem Gefängnis. Das finde ich richtig.
Die heiligen Schriften sind ein gewisser Trost für mich, vor allem das Hokukyo , eine Sammlung buddhistischer Sprüche. Wenn Goto den Edlen Pfad ernsthaft studiert, wird er es früher oder später lesen. Einige Passagen möchte ich ihm besonders ans Herz legen.
Alle Wesen zittern vor der Gewalt.
Alle Wesen fürchten den Tod.
Alle Wesen lieben das Leben.
Denk daran, du bist wie sie,
und sie sind wie du.
Wem also willst du weh tun?
Wer nach Glück
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