Tokio Vice
nicht.«
Er hielt den Rucksack in der Hand. Dann stellte er ihn wieder auf den Tisch – sodass ich ihn leicht hätte packen können. Anscheinend wollte er mich herausfordern. Dann verschränkte er die Arme, neigte den Kopf zur Seite und starrte mich an. Er lächelte sogar ein klein wenig, fast unmerklich.
»Sie beleidigen mich.«
»Sie haben mich belogen. Sie haben mir nicht gesagt, wer Sie waren und was Sie wollten. Sie haben mich manipuliert. Sie haben mit mir gespielt wie mit einem Trottel. Woher soll ich wissen, dass Sie jetzt nicht lügen? An meiner Stelle würden Sie genauso reagieren.«
Zyklop war unbeeindruckt. »Ich bin aber nicht Sie. Und wenn ich Sie wäre, dann wäre ich ein Mann und würde Goto umbringen. Das wäre nicht schwer. Ich kann Ihnen sagen, wo Sie ihn finden und wo Sie ihn allein antreffen.«
»Ich bin aber kein Yakuza.«
»Sie sind auch kein Mann.«
»Und Sie sind kein echter Yakuza.«
»Dummes Geschwätz.«
»Nein, Sie waren nicht einmal auf Shibatas Beerdigung. Wo bleibt die Loyalität, der Respekt?«
»Ich war dort. Aber Ihren weißen Gaijin -Arsch habe ich nicht gesehen.«
Er nahm den Rucksack vom Tisch und zuckte mit den Schultern. »Wenn ich Ihnen je etwas schuldig war, dann schulde ich Ihnen jetzt nichts mehr. Wir sind quitt.«
»Geben Sie mir nur ein Foto. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann kann ich das nachprüfen. Nur ein verdammtes Foto von ihrem Gesicht. Das ist alles, was ich will.«
»Wie viel würden Sie dafür bezahlen? Das sind wertvolle Dinge.«
»Wie viel wollen Sie denn?«
»Mehr als Sie haben.«
»Ich brauche eine vernünftige Antwort.«
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, aber gehen Sie mir besser aus dem Weg.«
»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«
Er beugte sich ein wenig vor und sagte ganz leise: »Einmal hatten Sie Glück. Fordern Sie Ihr Schicksal nicht heraus. Sie durften weiterleben, weil Sie nützlich waren. Jetzt, da Goto weg ist, könnten manche Leute das aber anders sehen. Wenn Sie mir oder meinen Kollegen in die Quere kommen, zerquetschen wir Sie. Es gibt Mittel und Wege, das zu tun, ohne Sie auch nur mit einem Finger zu berühren.« Dann drehte er sich um und ging zu seinem Flugsteig. Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist. Und ich werde ihn bestimmt nicht suchen.
Ich weiß, dass Helena ein neues Leben anfangen wollte. Sie hatte Geld auf der Bank, und sie hatte ein Haus gekauft. Sie war schön, fürsorglich, tapfer und sehr lustig, wenn man deftigen Humor mag. Ein Teil von mir will glauben, dass sie ihre Sachen gepackt, alle Verbindungen abgebrochen und ein neues Leben begonnen hat. Seit damals bin ich mit einigen ihrer Freundinnen in Kontakt geblieben, und ich schicke immer noch Neujahrsgrüße an ihre alte E-Mail-Adresse. Sie kommen immer als unzustellbar zurück. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages eine Antwort erhalte. Manchmal, wenn ich durch Tokio gehe, meine ich sie zu sehen, ihre Stimme zu hören, aber sie ist es nie.
Beamte der Mordkommission versuchen ihren Verdächtigen oft mit folgendem Satz ein Geständnis zu entlocken: » Kokuhaku shinai to hotoke ga ukabarenai. « In Kriminalfilmen hört man diesen Satz häufig. Frei übersetzt bedeutet er: »Wenn Sie nicht gestehen, kann die Buddhanatur des Toten nicht aufsteigen. Dann findet er niemals Frieden.« Denn einem japanischen Volksglauben zufolge sind Mordopfer zwischen zwei Inkarnationen gefangen wie ein hungriger Geist, bis ihr Tod gesühnt ist. In der buddhistischen Mythologie sind sogar Himmel und Hölle nur zwei Stadien der Existenz. Wir sind dazu verdammt, immer wieder zu sterben und neu geboren zu werden, bis wir als Menschen frei von Hass, Unwissenheit und Gier sind. Was dann geschieht – nun, darauf gibt es keine klare Antwort. Ich vermute, dass es eine sehr angenehme Existenzebene sein wird.
Wenn es möglich ist, von einem Toten verfolgt zu werden, nehme ich an, dass Helena mich heimsucht. Oder ich suche mich selbst heim. Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht mehr am Leben ist, obwohl ich gerne etwas anderes denken würde. Hin und wieder träume ich von ihr. Manchmal ist sie verständnisvoll, ein andermal sehr wütend. Manchmal will sie nur umarmt werden. Ich schlafe nicht sehr gut. Ich habe seit März 2006 nicht mehr gut geschlafen. Falls sie tot ist, wird sie vielleicht erlöst, wenn Goto diese Welt verlässt. Dann kann sie endlich nach Hause gehen. Ich wüsste gerne, dass sie angekommen ist.
Als ich die letzten Beweisstücke sammelte, schloss ich
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