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Tokio

Tokio

Titel: Tokio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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flackerndem Schwarzweiß über die Leinwand flimmerte. Es war alles so anders, als ich es mir vorgestellt hatte. In meiner Version waren die Ränder scharf, die Gestalten nicht verschwommen und ruckend. In meiner Version war der Akt selbst rasch und stilvoll gewesen - ein Samurai- Tanz; zum Abschluss das übliche Schwingen des Schwertes, um es vom Blut zu säubern. Dunkle, fächerförmig ausgebreitete Spritzer auf dem Schnee. Doch dies war ganz anders, war linkisch und ungeschickt. Dies war Fuyukis auf sein Gewehr aufgepflanztes Bajonett; er hielt die Waffe mit beiden Händen, wie einen Spaten. Dies war der Mann, der seit seiner Kindheit im Aufschlitzen mit dem Bajonett geübt war und es jetzt mit aller Kraft in den ungeschützten Bauch der Frau rammte.
    Es brauchte zwei kraftvolle Stöße. Beim ersten Mal zuckte sie hoch, hob ihre Arme in einer seltsam gelassenen Bewegung, so dass das Messer in ihrer Hand in den Schnee fiel. Beim zweiten Stoß schien sie sich aufzusetzen, ihre Arme vor sich ausgestreckt wie eine Marionette. Doch bevor sie sich ganz aufrichten konnte, verließen sie die Kräfte, und sie sackte abrupt zurück und rollte ein Stück zur Seite. Dann lag sie reglos da, während sich ein dunkler Fleck auf dem Schnee um sie hemm ausbreitete wie ein Engel seine Flügel.
    Es war so grausam, dass ich selbst dreiundfünfzig Jahre später noch den Schrecken fühlen konnte, der sich auf den Wald herabsenkte. Die Züge des zweiten Soldaten entgleisten, und der Kameramann schien auf die Knie gesackt zu sein, denn das Bild ruckte. Als er seine Fassung wiedergewonnen und sich aufgerichtet hatte, griff Fuyuki bereits in die schartige Öffnung, die er geschaffen hatte. Er zog einen Arm heraus, dann das ganze Kind, unversehrt und dampfend; zerrte dabei einen dicken Klumpen Plazenta mit. Er warf ihn ein Stück weiter in den Schnee, baute sich über dem Körper der Mutter auf und stocherte geistesabwesend mit dem Bajonett in ihrem leeren Bauch, so als könnte noch mehr darin zu finden sein. Der jüngere Soldat schlug die Hände vors Gesicht und taumelte davon, ließ Shi Chongming los, der einen Satz nach vorn machte und sich in den dunkel verfärbten Schnee warf. Er griff nach seiner Tochter, wickelte sie in seine Steppjacke und kroch auf allen vieren zu seiner Frau. Er war Zentimeter von ihr entfernt, schrie ihr ins Gesicht, in ihre leblosen Augen. Dann bewegte sich der Kameramann ein Stück seitwärts und hielt auf Fuyuki zu, der über Shi Chongming stand und mit einer kleinen Pistole, einer Baby-Nambu, auf seinen Kopf zielte. Es dauerte einen Moment, bis Shi Chongming begriff, was
    geschah. Als der Schatten über ihn fiel, blickte er zögernd, widerstrebend auf. Fuyuki entsicherte die Waffe und streckte seine freie Hand aus: Gib her!
    Gib her.
    Shi Chongming rappelte sich auf die Knie, das Baby fest an seine Brust gedrückt, ohne seinen Blick von der ausgestreckten Hand zu lösen. Langsam, ganz langsam entsicherte Fuyuki die Nambu und drückte den Abzug. Shi Chongming zuckte zurück, sein Körper sackte in sich zusammen, und einen halben Meter hinter ihm stob eine kleine Schneewolke auf. Er war nicht getroffen, es sollte nur eine Warnung sein, doch er begann heftig zu zittern. Fuyuki machte einen Schritt nach vorn und presste die Mündung der Pistole an seinen Kopf. Schluchzend sah Shi Chongming zu seinem Peiniger auf. Alles, alles stand dort in seinen Augen zu lesen - die Visionen seiner Frau, was Nanking und ihr gemeinsames Kind betraf, die Frage: »Warum wir, warum jetzt, warum hier?«. Seine gesamte Geschichte. Irgendwie wusste ich, was als Nächstes geschehen würde,
    und verstand mit einem Mal, warum Shi Chongming diesen
    Film so viele Jahre über verborgen gehalten hatte. Ich erkannte, dass ich Zeuge wurde, wie er sein Leben gegen das des Kindes in seinen Armen abwog.
    Er starrte so lange auf die Hand, dass der Kurbelmechanismus der Kamera ablief und eine weitere Schnittstelle durch den Projektor ruckelte. Als das Bild zurückkehrte, starrte er immer noch darauf, und eine Träne lief über sein Gesicht. Ich presste meine Finger gegen die Stirn und wagte kaum zu atmen, während ich mir der Anwesenheit das alten Shi Chongming sehr bewusst war. Mit einem einzigen Satz, der keine Bedeutung für irgendjemanden außer ihm selbst zu haben schien, hob Shi Chongming das Baby hoch und legte es in Fuyukis Arme. Er senkte den Kopf, dann rappelte er sich auf und schlurfte in den Wald. Niemand hielt ihn auf. Er ging mit

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