Tokyo Love
Plastiktüte. Es sah aus wie die Art Pistole, mit der auch Ohrlöcher gestochen werden.
»Zeig mir deine Zunge. Wo willst du das Loch hinhaben?«
Ich streckte meine Zunge vor dem Spiegel raus und deutete auf eine Stelle etwa zwei Zentimeter von der Spitze entfernt.
Mit einer routinierten Bewegung wischte Shiba-san meine Zunge mit einem Papiertuch trocken und markierte die gewünschte Stelle mit einem schwarzen Punkt.
»Stütz dein Kinn auf den Tisch.«
Ich tat, was er sagte, und beugte mich mit heraushängender Zunge vor. Er legte ein Handtuch auf den Tisch und steckte einen Metallstift in die Pistole. Bei dem Anblick schlug ich Shiba-san unwillkürlich auf den Arm und schüttelte heftig den Kopf.
»Häh? Was denn?«
»Das ist doch ein 12g. Du willst doch nicht etwa gleich mit dem Ding da anfangen?«
»Ja, das ist ein 12er. Kein Mensch macht sich einen 16er oder 18er in die Zunge. Null Problem!«
»Dann nimm wenigstens einen 14er. Bitte!«
Verzweifelt beschwor ich Ama und Shiba-san, die sich zuerst nicht darauf einlassen wollten. Meine ersten Ohrringe seien immer 14g bis 16g gewesen. Shiba-san steckte daraufhin einen 14er-Stift in die Pistole und vergewisserte sich noch mal: »Ist das jetzt okay?«
Ich nickte kaum merklich und ballte meine Hände zu Fäusten. Sie waren glitschig feucht, ein unangenehmes Gefühl. Shiba-san positionierte die Pistole und drückte die Zungenspitze auf das Handtuch. Behutsam klemmte er meine Zunge ein. Ich spürte den kalten Metallstift auf der Unterseite.
»Okay?« erkundigte sich Shiba-san mit sanfter Stimme. Ich schaute auf und nickte kurz. »Auf geht’s«, hauchte er und legte den Finger auf den Abzug. Ich stellte mir Shiba-san mit dieser Stimme beim Sex vor. Ob er dabei auch mit einem solchen Raunen zu verstehen gab, daß er gleich kommen würde? Bei dem Klicken, das im nächsten Augenblick ertönte, durchlief mich ein weitaus heftigerer Schauer als beim Orgasmus. Ich bekam Gänsehaut und zuckte zusammen. Mein Magen verkrampfte sich, meine Möse ebenfalls. Es kribbelte und pulsierte wie in Momenten der Ekstase. Mit einem Schnappen löste sich der Piercingstift aus der Pistole. Wieder frei, zog ich mit schmerzverzerrtem Gesicht meine Zunge in den Mund zurück.
»Zeig her«, sagte Shiba-san und drehte mein Gesicht zu sich. Mit tränenden Augen streckte ich ihm meine taube Zunge entgegen.
»Hm, sieht gut aus. Es ist glatt durchgegangen und sitzt auch an der richtigen Stelle.«
»Stimmt! Lui, da hast du echt Glück gehabt.«
Ama hatte sich zwischen uns gedrängt und begaffte meine Zunge.
Sie brannte wie Feuer, und ich konnte kaum sprechen.
»Lui-chan, alles okay? Ganz schön tough! Frauen scheinen mehr aushalten zu können als Männer.
Manche Typen fallen sogar in Ohmacht, wenn ihre Schleimhäute – Zunge oder Genitalien – durchbohrt werden.«
Mit einem wortlosen Nicken bedeutete ich ihm, daß ich verstanden hatte. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckte mich in kurzen Intervallen. Aber ich war trotzdem froh, daß ich hergekommen war. Zuerst wollte ich es nämlich ganz allein machen, aber zum Glück hatte ich auf Ama gehört. Sonst hätte mich vermutlich mittendrin der Mut verlassen. Ich bekam Eis zum Kühlen und konnte spüren, wie meine Erregung langsam nachließ. Als ich mich dann etwas erholt hatte, kehrten wir nach vorne in den Laden zurück, wo ich zusammen mit Ama ein wenig herumstöberte und mir den Körperschmuck anschaute. Irgendwann wurde ihm das offenbar zu langweilig, denn er lungerte nun in der Ecke mit dem Sadomaso-Zeug herum. Ich bemerkte Shiba-san, der inzwischen auch aus dem Hinterzimmer gekommen war und sich über den Tresen lehnte.
»Was hältst du von split-tongues?« fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, es ist immerhin ein krasser körperlicher Eingriff, stärker als beim Piercen und Tätowieren. Klingt interessant, rein theoretisch, aber ich persönlich würde das nicht machen. Ich glaube, nur Gott allein hat das Recht, die menschliche Gestalt zu verändern.«
Seine Worte besaßen eine ungeheure Überzeugungskraft, und ich nickte zustimmend.
Mir kamen alle möglichen körperlichen Umgestaltungen in den Sinn, von denen ich bisher gehört hatte: das Bandagieren der Füße, das Einschnüren der Taille mittels Korsett oder die Halsverlängerung bei Eingeborenenstämmen. Ich überlegte, ob Zahnregulation auch dazugehörte.
»Nehmen wir mal an, du wärst Gott, welche Art Mensch würdest du dann erschaffen?«, fragte ich
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