Tokyo Love
ihm nach Hause. Dort angekommen, schubste ich ihn sofort ins Bad. Ich holte die beiden Zähne, die ich einfach nicht wegschmeißen konnte, aus meinem Kosmetiktäschchen und betrachtete sie auf meiner Handfläche. Nachdem ich am Küchenwaschbecken das Blut abgespült hatte, packte ich sie wieder zurück. Ich hatte mich anscheinend auf einen Psychofreak eingelassen. Er war so total fixiert auf mich, daß ich mich fragte, was wohl passierte, wenn ich von Trennung sprechen würde. Ob er dann auch außer sich geraten und mich umbrin gen würde? Als Ama aus dem Bad zurückkam, hockte er sich neben mich und schaute mich abwartend an. Ich sagte gar nichts.
»Tut mir leid«, hörte ich ihn kaum hörbar wispern. »Manchmal verliere ich einfach die Kontrolle über mich. Von Natur aus bin ich ein gutmütiger Mensch, aber wenn ich eine bestimmte Grenze erst einmal überschritten habe, kann ich nicht aufhören; dann mache ich weiter bis zum Ende. Bis der andere tot ist.«
Das hörte sich ganz danach an, als hätte er tatsächlich schon mal jemanden umgebracht.
»Ama, du bist ein erwachsener Mensch, rechtlich gesehen. Wenn du einen Mord begehst, bist du dran, verstehst du das?«
»Nee, wieso? Ich bin doch immer noch minderjährig …«
Dabei blickte er mich direkt an, ohne mit der Wimper zu zucken. Mir blieb die Spucke weg. Völlig überflüssig, sich seinetwegen Sorgen zu machen.
»Hör auf mit dem Quatsch!«
»Nein, ehrlich!«
»Als wir uns kennenlernten, hast du mir gesagt, du wärst vierundzwanzig.«
»Ja, aber nur weil ich dich in dem Dreh eingeschätzt habe und gleichaltrig sein wollte. Du solltest mich nicht für einen Grünschnabel halten. Na ja, mein Geständnis ist ja nun leider etwas salopp geraten. Hätte ich es feierlicher verkünden sollen? Übrigens, wie alt bist du denn eigentlich?«
»Ganz schön taktlos, mein Lieber. Ich bin auch noch nicht volljährig.«
»Du spinnst!« schrie Ama, die Augen weit aufgerissen. »Echt, stimmt das? Mensch, das ist ja super!«
Strahlend fiel er mir um den Hals.
»Mann, wir sehen einfach zu alt aus, das ist der Punkt«, rief ich empört und stieß ihn von mir. Mir wurde klar, wie wenig wir einander kannten. Weder wußte der eine vom anderen, wie er aufgewachsen, noch wie alt er war. So als hätten wir die ganze Zeit das Thema umgangen, um ja nicht daran zu rühren. Selbst jetzt, da wir wußten, daß wir beide noch minderjährig waren, gingen wir nicht soweit zu fragen, wie alt jeder von uns denn nun tatsächlich war.
»Sag mal, Ama, wie heißt du eigentlich richtig? Amano? Suama?«
»Suama? Was soll das denn? Ich heiße Ama … Amadeus. Ama ist mein Vorname und Deus mein Familienname. Klingt wie Zeus – ist doch geil, oder?«
»Wenn du mir deinen Namen nicht verraten willst, dann eben nicht!«
»Ich heiße aber wirklich so. Was bedeutet denn Lui?«
»Ich wette, du denkst jetzt an Louis XIV., oder? Stimmt aber nicht. Es kommt von Louis Vuitton.«
»Ach so, du machst auf feine Dame.«
Auch danach redeten wir nur belangloses Zeug und quatschten, ständig eine Pulle Bier in der Hand, bis zum Morgengrauen.
Am nächsten Nachmittag ging ich zum Desire und schaute mir zusammen mit Shiba-san Vorlagen für Tattoos an. Ich war ganz erstaunt über die Vielfalt, die von Ukiyoe-Motiven, wie sie bei Kraftprotzen beliebt waren, über Totenköpfe bis hin zur frühen Mickey-Mouse-Version reichte. Sein beeindruckendes Bildarchiv machte mich sprachlos.
»Dir gefallen die Drachen?« fragte Shiba-san und lehnte sich vor, um auch einen Blick in den Ordner zu werfen, in dem ich gerade eingehend Drachenmotive studierte.
»Hm, ja, ich glaub, ich steh auf Drachen. Ach, ist das nicht der von Ama?«
»Hm … doch … die Form ist ein bißchen anders, aber so in etwa ist sein Motiv.«
Shiba-san lehnte sich gegen den Tresen und sah zu mir herunter, wie ich auf dem Stuhl sitzend weiter in der Mappe blätterte.
»Sag mal, Ama weiß nichts davon, oder? Ich meine, daß du hier bist?«
Als ich zu ihm aufschaute, sah ich den Anflug eines Lächelns in seinen Augen aufblitzen.
»Nee.«
Daraufhin meinte er mit eher ernstem Blick, ich solle Ama bloß nicht erzählen, daß er mir seine Handynummer gegeben habe. Ich begriff sofort, daß er über Amas Temperament Bescheid wußte.
»Sag mal, was meinst du, was mit Ama …«, fing ich an, brach jedoch mitten im Satz ab.
»Du willst wissen, was mit dem Typen los ist?«
Shiba-san schaute für einen Moment amüsiert an die Decke, bevor er den
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