Tokyo Love
wenn der Täter nicht gefaßt war? Ich konnte meine Wut nicht zurückhalten.
»Ihr findet mich also zu aufdringlich, ja? Aber dazu habt ihr überhaupt kein Recht! Was ist denn nun, he? Was ist daran so anmaßend, wenn ich von euch verlange, endlich den Mörder zu fassen? Ihr glaubt wohl, mit dieser Schlamperei durchzukommen, nur weil Ama jemanden getötet hat, wie? Fahrt doch zur Hölle, blödes Pack! Meinetwegen könnt ihr verrecken! Das wäre für alle das Beste!«
»Lui, jetzt reiß dich zusammen. Du redest doch bloß noch wirres Zeug!«
Ich sackte zu Boden und bekam einen Weinkrampf. Zur Hölle mit euch! Scheißpack! Mein Repertoire an Schimpfwörtern erwies sich in dem Moment als ziemlich dürftig. Ich war einfach nur hilflos. Richtig im Arsch. Sogar ich mußte mir das eingestehen. Ich bin eine erbärmliche Kreatur, und sonst nichts.
Fünf Tage waren seit dem Auffinden von Amas Leiche vergangen, aber der Täter war immer noch nicht gefaßt. Ich blieb bei Shiba-san im Desire. Bis auf das eine Mal, wo er mich in eine Klinik geschleppt hatte, war ich nicht aus der Wohnung gegangen. Shiba-san, der meinen Zustand nicht mehr mit ansehen konnte, fragte mich, ob ich im Laden helfen wolle. Hin und wieder machte er Anstalten, mit mir zu schlafen, doch ohne mein schmerzverzerrtes Gesicht klappte es nicht bei ihm. Ich verharrte in Ausdruckslosigkeit, selbst wenn er mich würgte. Anstatt Angst zu haben, er könnte zu fest zudrücken, wünschte ich mir vielmehr, er möge mich umbringen. Hätte ich ihn tatsächlich darum gebeten, hätte er mir wahrscheinlich den Gefallen getan. Aber ich sprach es nicht aus. Wahrscheinlich tat ich es nicht, weil ich doch eine zu große Scheu davor hatte. Oder weil ich trotz allem noch an dieser Welt hing. Oder weil ich mich weiter der Illusion hingeben wollte, Ama sei gar nicht tot. Das einzige, was ich wußte, war, daß ich weiterlebte. Die Tage schleppten sich dahin: ein ödes Dasein ohne Ama. Monoton auch deshalb, weil ich keinen Sex mit Shiba-san haben konnte. Hinzu kam, daß ich jegliche Nahrungsaufnahme eingestellt hatte. Nicht einmal Kleinigkeiten vermochte ich zu essen. Binnen eines halben Jahres hatte ich mich von 42 Kilo auf 34 Kilo heruntergehungert. Angesichts der Tatsache, daß wir sowieso alles wieder ausscheißen, erschien mir Essen als lästige Begleiterscheinung. Ich konnte es also gleich sein lassen. Trotzdem mußte ich aufs Klo, obwohl ich nur Bier trank. Man nennt so etwas Kotstauung. Es gebe stets eine fäkale Reserve im Darm, klärte mich der Arzt im Krankenhaus auf. In ruhigem, freundlichem Ton warnte er mich dann, daß ich mich zu Tode hungern würde, wenn ich so weitermachte. Er riet mir zu einem Klinikaufenthalt, doch Shiba-san war dagegen. Wieso eigentlich? Was konnte er schon anfangen mit einer Frau, die er nicht ficken konnte.
»Lui, räum das Zeug da ins Regal!«
Ich spurte sofort, indem ich die Beutel mit den Piercings, die ich zuvor ausgepreist hatte, zusammenraffte und zum Regal rüberging. Shiba-san war schon eine geraume Weile damit beschäftigt, in allen möglichen Winkeln sauberzumachen. Es sah ganz nach einem Neuanfang aus. Das alte Jahr neigte sich ja auch dem Ende zu. Es wurde jetzt schon spürbar kälter, und Weihnachten mit seinen Feiern und Veranstaltungen stand vor der Tür. Shiba-san hatte wohl den großen Kehraus im Sinn.
»He, Shiba-san!«
»Sag mal, willst du nicht mal langsam das ›san‹ weglassen?«
Bildete er sich etwa ein, wir wären ein Paar?
»Ich heiße Kizuki Shibata.«
Das wußte ich bereits, da ich den Namen auf dem Türschild seiner Wohnung gelesen hatte.
»Kizuki klingt doch irgendwie weibisch, oder? Alle nennen mich Shiba. Weiß auch nicht, warum.«
»Und wie soll ich dich nennen?«
»Kizuki ist okay.«
Ama und ich hatten nie derartige Gespräche geführt, wie sie wohl in Zweierbeziehungen üblich sind. Vielleicht empfand ich deshalb ein so großes Bedauern über Versäumtes. Wie schön wäre es gewesen, wenn wir über ganz normales Zeug geredet hätten – über unsere Familie, über unsere Vergangenheit, über unser Alter, über unsere wirklichen Namen. Auf seiner Beerdigung schnappte ich ein paar Details auf: Ama war achtzehn. Erst nach seinem Tod erfuhr ich also, daß ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Typen zusammengewesen war, der jünger war als ich. Um genau zu sein, ein Jahr, denn ich war neunzehn. Über so etwas sprach man üblicherweise bereits am ersten Tag, an dem man sich
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