Tokyo Love
kennenlernte.
»Kizuki!«
Es fiel mir schwer, diesen Namen auszusprechen. Ich tat es aber trotzdem.
»Was denn?«
»Das Regal hier ist voll, da paßt absolut nichts mehr rein.«
»Ach, das geht schon irgendwie. Pack sie ins Regal daneben oder stopf sie einfach noch dazwischen.«
Ich zwängte die Tüten in das proppenvolle Regal, wo sie komischerweise sogar noch in eine Reihe paßten. Der Anblick der Piercings in den Tüten rief mir erneut Ama ins Gedächtnis. Ich hatte inzwischen die Lust verloren, das Loch in meiner Zunge noch weiter zu dehnen, obwohl die Schmerzen längst abgeklungen waren. Jetzt, da mich niemand mehr dafür bewunderte, erschien mir das ganze Theater umsonst. Vielleicht hatte Ama ja recht, und ich wollte die Schlangenzunge nur, um das gleiche Feeling mit ihm zu teilen. Noch eine Einheit weiter, und ich wäre bei 00g ankommen. Das war der Punkt, an dem Ama seine Zunge gespalten hatte. Obgleich ich fest entschlossen gewesen war, die Zunge bei 00g zu splitten, war meine zuvor nicht zu bändigende Begeisterung nun so kurz vor dem Ziel erloschen. Das Zungenpiercing hatte keinen Sinn mehr, nun, wo mit Ama auch meine Leidenschaft verschwunden war.
Ich ging zurück zum Tresen, setzte mich auf einen der Alustühle und starrte geistesabwesend an die Decke. Ich hatte zu nichts mehr Lust. Mir fehlte jegliche Bereitschaft, irgendwas zu tun, oder der Glaube, daß ich irgendwas be wirken konnte.
»Sag mal, Lui, verrätst du mir, wie du richtig heißt?«
»Du willst das wirklich wissen?«
»Sonst würde ich ja nicht fragen.«
»Lui kommt von Louis Vuitton.«
»Nein, ich meine deinen richtigen Namen.«
»Lui Nakazawa.«
»Ach, dann heißt du tatsächlich Lui. Was ist mit deiner Familie? Leben deine Eltern noch?«
»Jeder hält mich für eine Waise, aber ich habe Eltern. Sie leben jetzt in Saitama.«
»Oh, das hätte ich nicht erwartet. Irgendwann sollte ich mich wohl mal bei ihnen vorstellen.«
Komisch, wieso dachten eigentlich immer alle, ich sei ein Waisenkind? Meine Eltern waren beide wohlauf, und unser Verhältnis soweit intakt. Shiba-san staubte in sichtlich guter Laune die Regale ab, während ich die Zeit verstreichen ließ, indem ich ihm dabei zuschaute.
Am nächsten Tag ging ich nicht ins Desire, sondern zum Polizeirevier. Am Morgen war ein Anruf gekommen. Es gebe einige Neuigkeiten, hieß es. Da Shiba-san in seinen Laden mußte, machte ich mich allein auf den Weg. Vorher schminkte ich mich sorgfältig und entschied mich für Amas Lieblingskleid. Es war kalt draußen, so daß ich Strickjacke und Mantel überzog.
»Die Zigarettenabdrücke stammen allesamt von Marlboro Menthol. Der Speichel ist bereits analysiert worden. Außerdem haben wir herausgefunden, daß es sich bei dem Räucherstäbchen in seinem Penis um einen Importartikel aus den USA handelt: Die Marke heißt ›Ecstasy‹, Moschus.«
Was zum Teufel sollen diese Fakten? dachte ich und spürte, wie der Zorn erneut in mir hochstieg. Ama, ich, Shiba-san, Maki – wir alle rauchten Marlboro Menthol. Die Zigarettenmarke des Täters brachte also überhaupt keine Erkenntnis.
»Räucherstäbchen kann man doch überall kaufen.«
»Ja schon, aber diese Marke gibt es nur in der Kanto-Region. Und da ist noch etwas, das wir Sie fragen möchten.«
Das Gesicht des Beamten zuckte plötzlich nervös.
»Ist Ihnen bekannt, ob Herr Amada bisexuelle Neigungen hatte?«
Das brachte mich nun endgültig in Rage. Obwohl es mir allzu bewußt war, daß er diese Frage nicht aus Böswilligkeit stellte, hätte ich ihm am liebsten mit dem Klopperring an meinem Zeigefinder – das Geschenk von Shiba-san – in die Visage geschlagen.
»Warum fragen Sie? Wurde Ama vergewaltigt?«
»Das hat die Autopsie ergeben, ja.«
Ich holte tief Luft und ließ die Erinnerungen Revue passieren. Amas sexuelles Verhalten war alles andere als abnorm gewesen; ich hatte nicht die geringste perverse Neigung bei ihm erlebt. Wir hatten fast täglich miteinander geschlafen, und es war so stinknormal abgelaufen, daß es mir schon fast zum Hals raushing. Er war bestimmt nicht bisexuell gewesen. Allein bei dem Gedanken, daß Ama von einem Typen vergewaltigt worden war, wurde mir speiübel.
»Er hatte überhaupt keine derartigen Anwandlungen. Das kann ich beschwören. Er war ganz bestimmt nicht schwul.«
Beim Rausgehen strafte ich jeden Beamten, der mir über den Weg lief, mit einem verächtlichen Blick. Danach ging ich zurück zum Desire, um Shiba-san über die klägliche
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