Tolle Maenner
unerträglich geworden wäre. Sie hatte sich so viel Zeit genommen, wie sie für ihre Selbstvorwürfe brauchte, ihren Hass auf Marcus, Schuldzuweisungen an Phil und alle anderen überflüssigen, ungerechten Gefühle. Aber irgendwann blieb ihr nichts anderes übrig, als damit aufzuhören, und so konzentrierte sie sich allmählich wieder mehr auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit. Sie bedauerte keine Sekunde lang,
ihren Job bei der Times verloren zu haben. Sie bedauerte auch nicht ihr verschwindend geringes Einkommen. Sie bedauerte nicht einmal, dass sie das bisschen Geld anzapfen musste, das ihre Mutter ihr in Form eines Treuhandfonds hinterlassen hatte. Im Gegenteil – zum ersten Mal wusste sie dieses Geld wirklich zu schätzen.
»Ich brauche keinen Job, und wenn ich einen annähme, hätte ich keine Zeit mehr zum Schreiben«, erinnerte Tracie Laura. »Wenn ich mir mein Geld einteile, kann ich mir für den Rest des Jahres frei nehmen, und bis dahin müsste ich mit meinem Roman fertig sein.«
»Schon, aber wenn du einen Job hättest, der keine großen geistigen Ansprüche stellt, könntest du noch besser schreiben und zwei Jahre durchhalten«, erklärte Laura. »Nur für den Fall, dass es noch ein bisschen länger dauern sollte als du denkst.« Sie grinste, nahm einen Pinsel und begann, den Rand oben an der Decke zu streichen. Tracie bewunderte ihre ruhige Hand. Sie war groß genug – oder die Decke niedrig genug -, dass sie es ohne Leiter schaffte. »Ich denke, du machst jetzt besser sauber«, meinte Laura.
»Aber wieso denn? Meine Arbeit ist doch gar nicht so schlecht«, protestierte Tracie.
»Das nicht, aber Phil kommt vorbei, und ich glaube kaum, dass zurzeit einer von euch Wert darauf legt, den anderen zu sehen.«
»Da hast du auch wieder Recht.«
Laura hatte Phil in letzter Zeit häufiger getroffen, oder zumindest kam es Tracie so vor, da sie außer Laura nie jemanden traf. Natürlich hatte Laura in Seattle auch noch nicht allzu viele Freunde oder auch nur Bekannte, aber trotzdem schien sie sich in der Stadt allmählich einzuleben. Abgesehen vom mauvefarbenen Schlafzimmer war ihre Wohnung auf dem besten Weg, richtig nett zu werden, und Laura schien mit ihrem Job im Java, The Hut sehr zufrieden zu sein. Tracie war seit ihrem Bruch mit Jon nicht mehr da gewesen, aber Laura versorgte sie regelmäßig mit
detaillierten Berichten. Jon kam offensichtlich auch nicht mehr, sofern er nicht einfach aus Lauras Kommentaren gestrichen worden war. Jedenfalls freute sich Tracie darüber, dass Phil gleich kommen wollte – zum Teil, weil sie wegen Phil ein schlechtes Gewissen hatte, aber auch, weil sie froh war, endlich den Farbroller ablegen zu können.
»Ich hätte übrigens auch nichts dagegen, wenn mehr daraus werden sollte. Zwischen mir und Phil ist es vorbei.«
»Nein, wir sind nur schlechte Freunde«, witzelte Laura. »Wir treffen uns einmal die Woche oder so, um über unser Leben zu jammern. Er hat eine Weile gebraucht, bis er den Bogen raus hatte, aber allmählich lernt er es.«
»Jon und ich haben auch mal als Freunde angefangen.«
Einen Augenblick lang musste Tracie an ihre Treffen mit Jon denken, bei denen sie einander ihr Leid geklagt hatten, aber sie verdrängte den Gedanken an ihn wieder, wie sie es momentan mehrere Dutzend Mal am Tag tat.
»Jedenfalls finde ich wirklich, dass du dir einen Job als Bedienung suchen solltest«, meinte Laura. »Im Restaurant suchen sie nämlich gerade eine, und zwar nur halbtags. Da kämst du ein wenig raus, du könntest Material zum Schreiben sammeln, und die Trinkgelder sind auch nicht übel.«
»Trinkgelder!«, schnaubte Tracie verächtlich. »Ist das dein Ernst? Ich bin doch nicht mehr im College. Ich arbeite nicht für Trinkgelder.«
Laura schob Tracie ins Bad und drückte ihr ein Stück Seife in die Hand. »Ich geb dir einen guten Rat«, sagte sie. »Wasch dir die Spritzer ab, bevor sie festgetrocknet sind, und tu auch sonst alles, was ich dir sage. Ich hab nämlich immer Recht.«
Tracie schnaubte noch einmal.
Nervös und zerzaust ließ Tracie sich von Laura ins Java, The Hut schieben. Der Gedanke, Molly gegenübertreten zu müssen, war ihr offenbar nicht sehr angenehm. »Brauchst du noch eine Bedienung?«, fragte sie.
»Ja, so nötig wie einen breiteren Arsch«, erklärte Molly. Dann musterte sie Tracie von Kopf bis Fuß. »Wieso? Brauchst du Arbeit?«
»Na ja, ich bin gewissermaßen entlassen worden, aber mein Chef behauptet, ich hätte selber
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