Tolstoi Und Der Lila Sessel
hinterging, dann nicht, weil mich die Lust um den Verstand brachte, sondern weil die Liebe verblasste und ich zu feige war, die Beziehung zu beenden.
Das erste Mal küsste ich Jack am Silvesterabend 1988. Er war schon seit Monaten ein guter Freund, der in derselben Anwaltskanzlei wie ich bis abends spät arbeitete. Wir beide waren am letzten Tag des Jahres im Büro, und ich hatte ihn eingeladen, mit mir zu einer großen Party in einer Villa mit Blick über den Hudson zu kommen. Der Dresscode war Black-Tie. Als Witz schenkte ich Jack eine blaue Fliege mit roten Punkten. Um zwölf Uhr lockerte er den Knoten der lachhaften Fliege und zog mich zu einem ausgiebigen Kuss an sich. Auf der Fahrt zurück nach Manhattan versuchte er, die sechzig kleinen Knöpfe an meinem schwarzen Samtkleid zu öffnen, schaffte aber nur zehn, bis kurz unterhalb meines Schlüsselbeins, dann hielt das Taxi vor seiner Wohnung. Einen Monat später waren wir zusammen in Utah, wo wir uns in die Flitterwochensuite des Snowed Inn verkrochen. Es war das einzige freie Zimmer, und wir fassten es auf, als hätten wir den offiziellen Segen bekommen. Sex mit Liebe: die perfekte Gleichung.
Vielleicht fange ich irgendwann an mich zu fragen, wie es mit einem anderen wäre. Es ist schließlich nur menschlich, das zu begehren, was man nicht hat. Antonya Nelson schreibt in ihrer Geschichte Palisades , die in der Sammlung Female Trouble enthalten ist: »Du wolltest in einem bequemen, verstellbaren Ledersessel sitzen, ein Glas Wein trinken und deinem klugen Ehemann zu eurer beidseitigen Erbauung eine Passage exquisiter Prosa vorlesen, und du wolltest dich in einer schmuddeligen Absteige mit einem herrlichen, seelenlosen Jungen wildem, schamlosem Sex hingeben … Du wolltest etwas Festes, du wolltest etwas Fließendes.« Aber seine Gedanken schweifen zu lassen heißt nicht, dass man tatsächlich abschweift, und meine Lust auf meinen Mann hat nicht nachgelassen. Das, was ein Paar zusammenhält, ist nicht allein das Feuer der Begierde – es ist vielmehr das Zwiegespräch, ein gegenseitiger Austausch, der sich über Jahre erstreckt und mal durch Worte, mal durch Zärtlichkeiten fortgesetzt wird.
Am Ende sind es die Jahre gemeinsamer Erfahrungen – als Eltern, als Freunde, als Mann und Frau –, die Cliff und Vivian in The English Major wieder zusammenbringen. Beide haben sich einen eigenen Bereich, eigene Interessen abgesteckt, sind sich aber der Bindung, die durch gegenseitiges Begehren und gemeinsame Erfahrungen entstanden ist, sehr bewusst. Auch Jocelyn und Charles in A Celibate Season überwinden ihre Krise mehr oder weniger unversehrt. Sie finden körperlich und seelisch wieder zueinander, bleiben verbunden durch »all die kleinen Fäden der Anteilnahme und Notwendigkeit« ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Die Lust auf den anderen haben sie nie verloren. Eher ist es so, als hätten sie diese verlegt und dann wiedergefunden.
Woher kommt Lust? In den Büchern, die ich las, wurde sie von vielen verschiedenen Stimuli entfacht, sowohl körperlicher als auch geistiger Art. Worte konnten Lust wecken, ebenso wie eine Hand, die eine Brust berührt. Aber wie hält man die Lust am Leben?
Leidenschaft entsteht in der Liebe zweier Menschen füreinander und stärkt zugleich die Bindung zwischen ihnen. Das Feuer flackert und droht zu erlöschen, und ich verstand die Romanfigur Laura Rider, die das Gefühl hatte, ihr Quantum Lust sei aufgebraucht. Es gibt Tage, an denen ich lieber ein Buch lese, statt ins Bett zu springen, und mit Sicherheit würde ich lieber jeden Tag ein Buch lesen als jeden Tag im Jahr Sex haben. Aber ich weiß auch – und die Bücher, die ich las, bestätigten es –, dass Sex die Verbindung zwischen meinem Mann und mir, die auf weit mehr als nur körperlichen Bedürfnissen beruht, stärkt, ihr Fleisch und Flexibilität gibt.
Jack und ich sind zusammen, weil wir uns lieben, und aus unserer Liebe haben wir einen Ort innerhalb der Welt gemacht, an dem wir sicher sind – so sicher wie möglich. Nach dem Verlust von Anne-Marie weiß ich um äußere Gefahren, aber innerhalb dieser Festung von Liebe und Fürsorge wünsche ich mir so starken Halt wie möglich: einen Willkommensgruß vor der Tür, eine Fahne, die vor Gefahr warnt, und ein Leuchtfeuer für das Leben.
15
Der Mann aus meinem Traum
Das alte Argument …: »Der Tod ist süß; er erlöst uns von der Todesangst.« Ist das etwa kein Trost? Nein, es ist ein Sophismus. Besser gesagt, wieder
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