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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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fuhr, und bereiteten abends aus Krabbenfleisch, Muscheln, Pasta und frischen Tomaten, die von Jugendlichen gepflückt und an Gemüseständen verkauft wurden, üppige Mahlzeiten. Nach dem Essen setzten wir uns auf die Veranda, versorgten uns mit Wein, Bier und Scotch und redeten bis in die frühen Morgenstunden.
    Besuchten wir Anne-Marie und Marvin im Winter, verbrachten wir die Tage im Haus am Kaminfeuer, mit Büchern und heißem Tee, oder wir durchstreiften die umliegenden Städtchen und gingen auf Flohmärkte oder in Antiquariate. An einem Wochenende kaufte ich einen vollständigen Satz Personality Development: A Practical Self-Teaching Course aus dem Jahr 1930. Die schmalen Bände waren voller erstaunlich breit gefächerter Ratschläge, angefangen damit, wie man einen Mitesser beseitigt (»Man bedecke die Fingerspitzen mit sauberem Mull oder Leinen und drücke sacht zu, um die lästige Substanz zu entfernen«) oder wie man ein Buch auswählt (»Bei der Auswahl eines Buches gehe man ernsthaft, gewissenhaft und aufrichtig vor und vertraue dann auf die Vorsehung und lese leichten Sinnes«). Als ich den Abschnitt vorlas, in dem beschrieben wird, wie man einen Gegenstand, der zu Boden gefallen ist, geziemend aufhebt (»Man achte darauf, den Gegenstand möglichst nicht zu packen oder zu grapschen, sondern ihn leicht und anmutig mit den Fingerspitzen aufzuheben«), brach Anne-Marie in schallendes Gelächter aus und warf eine Serviette auf den Boden, damit ich gleich eine Möglichkeit zu üben hatte.
    Ich erinnere mich, wie Jack und ich an dem Tag, nachdem Gorbatschow gestürzt worden war und Hurricane Bob die Ostküste entlang auf uns zuraste, bei Anne-Marie auftauchten. Wir waren aus unserem Ferienhäuschen am äußersten Ende von Long Island geflüchtet und suchten in Bellport Unterschlupf. Alles war still, kein Zeichen von Anne-Marie oder Marvin. Wir riefen immer wieder nach ihnen, und schließlich ging ich nach oben, um nachzusehen.
    Anne-Marie kam triefend nass aus der Dusche.
    »Ein Putsch? Ein Hurrikan? Wovon redest du?« Wenige Minuten später fiel der Strom aus, wir weckten Marvin und versammelten uns alle in der Küche.
    Die einzigen Lebensmittel im Haus waren Austern, die am Vortag frisch aus dem Meer geholt worden waren, Salzcracker und Brot. Es gab keine Milch und keine Möglichkeit, ohne Strom Kaffee zu kochen.
    »Wenigstens haben wir massenweise Champagner«, sagte Anne-Marie zum Trost. Wir ernährten uns also von Austern, Champagner und scharf riechendem Käse, den Anne-Marie hinten in ihrem Kühlschrank gefunden hatte. Wir zündeten Kerzen an, machten Feuer im Kamin und verbrachten einen wunderbaren Tag, während draußen der Sturm tobte. Am nächsten Morgen wurde der Strom wieder angeschaltet, Gorbatschow war im Begriff, sich die Macht zurückzuholen, und die Sonne schien.
    Auch als die Kinder da waren, wurden wir weiterhin nach Bellport eingeladen, trotz der Ausrüstung, die wir mitschleppten (Reisebett, Hochstuhl, Buggy, Windelkartons, Spielzeug), von unseren lauten, lärmenden Kindern ganz zu schweigen. Wir Erwachsenen blieben bis tief in die Nacht auf der Veranda sitzen, tranken und redeten, aber der Morgen kam viel früher, als uns recht war, besonders, wenn er von den Stimmen kleiner Kinder angekündigt wurde, die wild darauf waren, zu spielen, zu plaudern und zu toben. In der Frühe verließ ich mit den Kindern das Haus, wobei ich sie fortwährend zur Ruhe mahnte, und fuhr mit ihnen in den kältesten Diner der Welt zum Frühstück (wir saßen in unseren Winterjacken), anschließend ging es zum Spielplatz am Strand. Dort blieben wir bis zu einer vertretbaren Tageszeit und kehrten zum zweiten Frühstück zurück – Blaubeerpfannkuchen, die Anne-Marie immer für die Kinder machte, wenn wir zu Besuch waren.
    Manchmal setzte Anne-Marie sich mit einem der Jungen auf den Boden. Sie nahm je einen Fuß in eine Hand und ließ beide ein Gespräch miteinander führen. Die Füße sprachen in kleinen jammervollen Stimmen über Ungerechtigkeiten (»Warum kriege ich immer die Socke mit dem Loch?«) und beschuldigten sich gegenseitig (»Du riechst« – »Du riechst viel schlimmer«). Die Kinder kriegten sich kaum noch ein vor Lachen, streckten ihr die Füße hin und bettelten um mehr. Und Anne-Marie gab ihnen mehr, unermüdlich.
    Meine Erinnerungen an Anne-Marie sind ein Pfand gegen das Schlimmste, was der Tod mit sich bringen kann. Ich lache, wenn ich an die komischen Dinge denke, ich lächele, wenn ich an

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