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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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manifest, wie wir alle es kennen. Meine eigene Schwester erscheint mir im Traum. Ich wünschte nur, sie käme als sichtbare Erscheinung zu mir. Ich würde nicht schreien, bestimmt nicht. Ich würde sie packen, selbst wenn sie ganz aus geisterhafter Luft bestünde, und nicht wieder loslassen.
    Natasha und ich trafen uns bei der Uhr in der großen Halle von Grand Central.
    »Glaubst du, dass Anne-Marie noch um uns ist?«, fragte ich sie.
    »Natürlich«, antwortete sie spontan; sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Ich weiß, dass sie hier ist, wenn wir von ihr sprechen.«
    Wir gingen zum Conservatory Garden im Central Park, den wir durch das schmiedeeiserne Tor bei der 105th Street betraten. Wir bogen rechts ein und kamen zu der Apfelbaumallee am Nordende. Die Blüte war fast schon verweht. Unsere Eltern erwarteten uns auf Anne-Maries Bank.
    Die Bank war bereits mit roten Rosen geschmückt, jetzt fügten wir unsere weißen Rosen sowie ein dickes Bündel Rosmarin hinzu, das mit neonblauem Band umwickelt war. Rosmarin zum Gedenken.
    »Wisst ihr noch, wie wir alle hier waren, als Peter ein Jahr alt wurde?«
    »Peter in seiner karierten Hose und dem passenden Jäckchen. Er ist überall rumgerannt, und Anne-Marie immer hinter ihm her.«
    Es gibt ein Foto von uns dreien, das an dem Tag gemacht wurde. Wir Schwestern sitzen auf einer Bank wie dieser, allerdings in der südlichen Allee. Auf dem Foto strahlen wir, lächeln, halten uns vertrauensvoll umarmt, als hätten wir alle Zeit der Welt, so zu reden, zu lachen und uns zu umarmen. Heute bitte ich einen Passanten, ein Bild von uns zu machen. Er nickt, lächelt, knipst. Zwei noch verbliebene Schwestern, eine Mutter, ein Vater. Rote und weiße Rosen, ein grünes Bündel Rosmarin, ein Streifen blauen Bandes: Die Farben bilden Akzente vor der schwarz gestrichenen Bank.
    War Anne-Marie in dem Moment bei uns? Konnte sie das überhaupt? Im Jahr nach Anne-Maries Tod kam ich im Herbst zu dieser Bank und saß dort ganz allein. Ich blickte auf und sah einen Waschbären, der friedlich über mir an einem Ast hing. Dieser Waschbär war entweder schlicht und einfach ein Waschbär, oder er war ein Zeichen, das Anne-Marie gesandt hatte, ihr Geist, der mir beistand. Als ich ein paar Monate später wieder zu der Bank kam, diesmal mit einer Freundin, setzte ich mich hin und weinte. Plötzlich kam ein kräftiger Ast durch die Luft geflogen und traf mich am Kopf. Ich sah meine Freundin an.
    »Hast du das gesehen? Anne-Marie hat mich gehauen! Sie sagt, ich soll aufhören zu weinen.«
    Meine Freundin sah mich groß an und nickte. Ich hörte auf zu weinen.
    An diesem vierten Jahrestag blickte ich hinauf in die grünen Blätter, die das Sonnenlicht abhielten, und in die letzten Blüten in verblassendem Rosa vor dem blauen Himmel. Neues Leben nach einem langen Winter. Wieder eine Botschaft für mich. Von einem Geist gesandt oder von der Natur?
    Ob als Geist oder nicht, Anne-Marie nimmt immer noch einen Platz in meinem Leben ein. In dem Buch Grief von Andrew Holleran beschreibt der Erzähler die Trauer so: »Wie Osiris, der in Stücke geschnitten und in den Nil geworfen wird. Er regt Fruchtbarkeit auf eine Weise an, die wir nicht erkennen können, das zerteilte Fleisch wird mit dem Blut in alle Bereiche unseres Lebens geschwemmt, es überflutet die Erde, bis irgendwann neues Leben entsteht.« Osiris, der Gott des Lebens nach dem Tod, macht eine Wiedergeburt möglich. Erinnerungen sind meiner Vorstellung nach der Gott, der Anne-Marie zu mir zurückbringt. Nein, wiedergeboren wird sie nicht. Und wahrscheinlich ist sie auch kein Geist, der über mir schwebt, noch ein Engel, der singend im Himmel sitzt. Andererseits ist sie auch nicht nichts , und nach ihrem Tod war auch nicht nichts um mich. Da waren all die erinnerten Momente aus der Zeit, die ich mit ihr erlebt hatte.
    Vor der Geburt unserer Kinder verbrachten Jack und ich viele Wochenenden mit Anne-Marie und Marvin in Bellport. Bellport ist eine kleine Stadt am östlichen Ende von Long Island. Von dort hat man einen Blick über die Great South Bay hinaus auf die Sanddünen von Fire Island. In Anne-Maries Haus konnten wir das Klirren der Schiffstakelagen in der Bucht hören, und der Salzgeruch der Marschen wehte mit der nächtlichen Brise durchs Haus.
    Im Sommer unternahmen wir Segeltouren mit Marvins Boot, oder wir setzten mit der Fähre über nach Fire Island und verbrachten den Tag am Meer. Wir verweilten am Strand, bis die letzte Fähre

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