Tolstoi Und Der Lila Sessel
ein Beweis dafür, dass man den Tod und seine Schrecken mit rationalen Argumenten allein nicht besiegen kann.
JULIAN BARNES ,
Nichts, was man fürchten müsste
Ende Mai liegt die Allee im Conservatory Garden im nördlichen Teil des New Yorker Central Park im Schatten dunkler Äste, die dicht von frischem grünen Laub behangen sind. Der gepflasterte Pfad zwischen den Bänken ist bestreut mit den Blüten der Apfelbäume, und an seinen Rändern rankt sich Efeu die Bäume empor wie Hände, die nach Rettung suchen. Unter dem dritten Baum rechts steht die Bank, die Anne-Marie gewidmet ist. Sie ist mit ihrem Namen und den Worten beschriftet, die Anne-Marie bei einem Spaziergang zwischen diesen Bäumen zu Marvin sagte: »Wie kann man in Verzweiflung enden, wenn so viel Schönheit in der Welt ist?«
Jedes Jahr kommt meine Familie an ihrem Todestag bei dieser Bank zusammen. Dieses Jahr war es ein Dienstag. Es war ein schöner Tag, warm und sonnig. Im Zug auf dem Weg nach New York las ich Pastoralia , einen Kurzgeschichtenband von George Saunders. Saunders’ Gestalten quälen sich mit dem Gedanken, dass ihr Leben nicht ganz so verläuft, wie sie es sich erhofft hatten. Sie sind die Ungeliebten, die zögernden Zaungäste oder diejenigen, die sich für die Familie aufopfern, während sie selbst unbeachtet bleiben. Aber Saunders’ Charaktere lassen sich nicht unterkriegen, sie sind zuversichtlich, dass sich ihr Leben irgendwann zu ihren Gunsten ändern wird. Sie spüren einen unbegründeten – und bewundernswerten – Optimismus. In Sea Oak stirbt Aunt Bernie, bevor ihr die gerechte Belohnung zuteil wird, mit der sie sicher rechnete. Als verwesende Leiche kehrt sie zurück, um das, was ihr zusteht, einzufordern. Sie ist hell empört und nicht bereit, sich weiterhin zu ducken: »Manche bekommen alles, und ich habe nichts bekommen. Warum? Wie ist das geschehen?« Sie ist zwar tot, aber sie begehrt trotzdem auf. Ist das nur erdacht oder auch möglich?
Ich halte an meiner Hoffnung fest, dass es ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tod gibt. Als ich den Titel von Julian Barnes’ Buch über seine Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit las – Nichts, was man fürchten müsste –, verstand ich ihn als ein aufrichtiges Bekenntnis der Angst. Seit meiner Kindheit ist es das Nichts, das nach dem Tod kommt, wovor ich Angst habe. Mit zwölf Jahren hatte ich einen so lebhaften Traum, dass mir noch heute jede Einzelheit klar vor Augen steht. Ich bin zu Hause und stehe auf der Schwelle zwischen unserer halb dunklen Garage und dem mit Büchern gefüllten elterlichen Arbeitszimmer. Neben den Bücherregalen und vor dem Schachtisch meines Vaters steht ein Mann. Dort, wo er steht, gehört eigentlich der Lehnstuhl mit der geschwungenen Rückenlehne hin, der aber ist verschwunden. Der Mann starrt mich mit bösen Augen an, sein Mund ist vor Hass verzerrt. Er kommt auf mich zu. Mit einer Hand hält er mir eine Pistole an den Kopf, mit der anderen hindert er mich am Weglaufen. Ich spüre den Lauf an meiner Schläfe und weiß in dem Moment, wie der Tod sein wird. Dunkelheit, ewige Leere, das Ende allen Denkens. Hinter dem Mann sind alle Bücher, die ich nie mehr lesen werde, vor mir das Nichts, für immer.
Barnes richtet sich mit seiner eigenen Furcht vor dem Nichts ein, indem er ein kummervoller Agnostiker wird: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.« Er überlegt, ob seine Verwandlung von einem Atheisten in einen Vielleichtgläubigen mit seinem fortschreitenden Alter oder mit der Entwicklung seines Denkens zusammenhängt (je näher der Tod kommt, desto attraktiver erscheint ihm die Idee von einem Leben nach dem Tod). Zwar kann er keine Beweise für ein Leben nach dem Tod finden, aber er hat auch keine Beweise für das Gegenteil.
Mir gefällt Barnes’ Geschichte von dem Atheisten, der, nachdem er gestorben ist, zur Himmelspforte kommt und sich über das ganze Aufhebens ärgert: »Das Rasen des auferstandenen Atheisten.« Ich würde mich nicht im Geringsten ärgern, wenn ich perlenbesetzte Pforten, ein Wolkenmeer und die Gesichter von Freunden und Verwandten sähe, die vor Jahren gestorben sind. Ich weiß, dass mir vor Erleichterung schwach und vor Aufregung schwindlig würde. Ich finde die Vorstellung, dass es Dimensionen gibt, die wir nicht ergründen können, durchaus überzeugend. In diesen Sphären schweben die Seelen der Verstorbenen, und manchmal werden sie in einer Erinnerung oder in einem Déjà-vu-Gefühl
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