Tolstoi Und Der Lila Sessel
unter ihrem Absatz zu zertreten.« Die einzige liebende Person in Oscars Leben ist seine Großmutter, und die lebt auf der anderen Seite des Meeres in der Dominikanischen Republik. In den Augen seiner Großmutter ist er ein »Genie«, für alle anderen ist er ein Mutant: »Willst du wirklich wissen, wie es sich anfühlt, ein X-Mann zu sein? Dann brauchst du nur ein cleverer farbiger Junge in einem Getto in den USA von heute zu sein, der gerne liest. Mamma mia! Als hätte man Fledermausflügel, oder es würden einem Saugnäpfe aus der Brust wachsen.«
Für unser Treffen im Juni las unsere Westport-Lesegruppe A Hope in the Unseen von Ron Suskind. A Hope in the Unseen ist die wahre Geschichte eines Jungen, der mit seiner Mutter in einem der schlimmsten Bezirke von Washington lebt. Ähnlich wie Oscar ist auch Cedric eine Art Sonderling, der in der Schule von den anderen Kindern wegen seiner guten Noten aufgezogen, von den Lehrern als leuchtendes Beispiel hingestellt und von seinem im Gefängnis sitzenden Vater missverstanden wird. Rückhalt bekommt er vor allem von seiner Mutter, die ihm großzügig Liebe und Zuneigung schenkt. Nahrung und ein Dach über dem Kopf sind jedoch nicht immer leicht zu beschaffen. An manchen Abenden gibt es nichts zu essen, weil kein Geld da ist. Mutter und Sohn stehen mehr als einmal vor Zwangsausweisung und Obdachlosigkeit.
Obwohl Cedric viel mit Oscar gemein hat, ist ihm stets die zuverlässige Unterstützung seiner Mutter gewiss, wenn auch nicht ihr Verständnis. Cedric wird, in meinen Augen, in dem Moment zum Mann, als er erkennt, bei allem, was er aus seiner Vergangenheit hinter sich lassen möchte, ist seine Mutter »nicht jemand, über den er sich erheben und die er zurücklassen kann. Allein durch sie war er so weit gekommen. Sie hat gegeben, die ganze Zeit nur gegeben, ihr ganzes Leben, das meiste ihm.« Deshalb sagt er zu ihr: »Du darfst nicht die Einzige sein, die sich kümmert. Ich bin jetzt so stark, dass ich das auch tun kann.« Dann umarmt er sie: »Seine langen Arme drücken sie fest an sich, eine starke Frau, die von jetzt ab nicht mehr ganz so stark zu sein braucht.«
Wo es Hoffnung und Liebe gibt, kann ein junger Mann heranwachsen. Cedric hatte jemanden, der sich liebevoll um ihn kümmerte, und er wächst seinerseits zu einem Mann heran, der sich um sich selbst und um andere kümmern kann. Die Mutter liefert das Vorbild, der Sohn eifert ihr nach. Welches Vorbild gebe ich meinen Söhnen? Jeden Tag ein Buch, ein Jahr lang: Ist das zwanghaft und verrückt oder hingebungsvoll und diszipliniert? Meine Kinder mussten selbst darüber befinden.
An einem sehr regnerischen Tag im Herbst, lange bevor ich mit meinem »Ein-Buch-am-Tag«-Projekt anfing, ging ich zur Straßenseite unseres Grundstücks und begann, einen kleinen Ahornbaum auszugraben, der im Schatten der größeren Bäume gewachsen war. Es war ein Schössling, aber er hatte herrliche rote und orangerote Blätter, die im Regen wunderbar glitzerten. Nach einer Weile hatte ich die Wurzeln freigelegt. Ich zerrte den Baum mitsamt Wurzelballen auf einen Wagen, dann zog ich den Wagen über den Rasen hinters Haus. Ich pflanzte den Baum neben die Terrasse. Jetzt konnte ich vom Spülbecken in der Küche die leuchtenden Blätter vor dem dunkelblauen Himmel sehen. Im Winter funkelt die Sonne auf dem Schnee, der auf den Ästen liegt. Im Frühling bilden sich winzige Knospen an den Ästen, und jetzt, im Juni, ist der Baum über und über grün. Der Schatten, den er in einer Ecke der Terrasse warf, war gerade groß genug, dass ich einen Sessel hinüberziehen und vor der Sonne geschützt lesen konnte. Meine Kinder hatten Fragen zu dem Baum: Warum war ich nicht in die Baumschule gegangen und hatte einen richtig schönen Baum gekauft?
»Weil«, so erklärte ich ihnen, »dieser kleine Ahornbaum im Schatten der großen Bäume stand. Da wäre er nie richtig gewachsen, dabei konnte er sehr wohl größer werden. Mit mehr Sonne und Luft und Platz würde er ganz groß werden, das wusste ich genau. Das war die Antwort: Es war ein Baum mit Möglichkeiten, und ich hatte ihn gerettet. Dieser Baum hat mich nichts gekostet, außer der Mühe, ihn auszugraben, nach hinten zu transportieren und einzupflanzen. Versteht ihr jetzt?«
»Hast du nicht genug Geld für einen neuen Baum?«, fragte Martin.
»Bist du geizig?«, wollte George wissen.
»Du buddelst gern«, war Michaels Schlussfolgerung.
Peter schüttelte den Kopf.
Jack kam aus dem Haus und
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