Tolstoi Und Der Lila Sessel
wir essen alle zusammen – inzwischen schafft es der Salat heil in der Schüssel auf den Tisch, und statt Chicken-Nuggets wird Hähnchenbrust serviert.
Statt des unbekümmerten Geplauders bei Tisch erzählen mir meine Jungen jetzt nur noch das, was sie mir erzählen wollen. Natürlich war ich nie ganz in ihre Gedanken eingeweiht, aber als sie klein waren, plapperten sie munter drauf los und erzählten alles, was ihnen durch den Kopf ging. Jetzt muss ich mich mit den knappen Worten begnügen, die sie sich beim Essen abringen, oder mich auf modernere Mitteilungsformen wie SMS und Facebook stützen. Peter ließ es zu, dass ich mich auf Facebook mit ihm befreundete, warnte aber, er würde mich rauswerfen, wenn er den Eindruck bekäme, ich würde ihm hinterherspionieren.
»Du sollst mir aber auch nicht nachspionieren!«
»Klar, Mum. Als ob ich meine Zeit damit verschwenden würde, dein Profil zu lesen.«
Nein, damit würde er seine Zeit nicht verschwenden. Aber was fing er mit seiner Zeit an? Ich wusste sehr viel über meine Kinder, aber was mir Angst machte, war das, was ich nicht wusste. War ich ihnen ein gutes Vorbild? Welche Ratschläge hatte ich ihnen mitgegeben? Ich fragte mich, was bei ihnen haften geblieben war von all den Lebensweisheiten, mit denen ich sie überschüttet hatte.
Meine Kinder lesen gern, genau wie ich. Als wir noch in New York wohnten, brachten Jack und ich die Kinder jeden Morgen zur PS9, der Schule an der Upper West Side. Jack ging dann weiter in sein Büro, und ich ging mit George, der noch nicht in der Schule war, wieder nach Hause. Eines Morgens versuchte Peter gleichzeitig zu lesen, zu laufen und mit uns Schritt zu halten.
»Peter«, tadelte Jack ihn, »du kannst nicht gleichzeitig lesen und gehen.«
Peter nickte, und wir gingen weiter. Nach ein paar Minuten bemerkte ich, dass wir Peter verloren hatten. Ich drehte mich um und sah ihn am anderen Ende des Häuserblocks, die Nase im Buch. Vor die Wahl gestellt, ob er lesen oder gehen wollte – beides konnte er ja nicht –, hatte er beschlossen zu lesen.
Die Bücher, die ich in dem Jahr las, sprachen sowohl von dem, was ich mir für meine Kinder wünschte, als auch von dem, was mir Angst machte. In der Vielfalt der Stimmen und Szenen fand ich nicht nur Anleitung für mein eigenes Leben, sondern auch für das meiner Kinder. In Der Kampf um die Insel von Arthur Ransome las ich über den perfekten Sommer im Freien, unbeaufsichtigt und ohne Regeln. Zwischen 1929 und 1947 schrieb Ransome zwölf Kinderromane, in denen es um die Mädchen und Jungen zweier Familien geht, die »Swallows« der Familie Walker und die »Amazons« – die beiden Töchter der Blacketts. Alle meine englischen Freunde haben diese Bücher auch gelesen, als sie klein waren, und manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere gemeinsamen Kindheitserinnerungen eigentlich aus den Ransome-Büchern stammten. Warum auch nicht? Die Kinder in den Ransome-Büchern verbringen eine wunderbare Zeit miteinander.
Ungeachtet aller Einmischung seitens der Erwachsenen entscheiden die Ransome-Kinder selbst, wie sie sich vergnügen wollen. »Wir können die Dinge jederzeit aufmischen. Sobald wir gegessen haben, hissen wir wieder die Fahne mit dem Schädel und den Knochen. Wir bringen Schwung in die Dinge und verschwenden keine Zeit.« Die Kinder sorgen für sich selbst und füreinander, sie haben ihren Spaß und verstehen sich ohne viel Streit oder Gejammer. Ransome ist für seine Beschreibungen praktischer Details bekannt, und dieses Buch enthält jede Menge Informationen darüber, wie man segelt, wie man eine Forelle mit den Händen fängt, wie man ein Kaninchen häutet (keine leichte Aufgabe). Die Kinder in den Ransome-Büchern verhalten sich so, wie ich es mir von meinen eigenen Kindern wünsche – tapfer, vernünftig und lebensfroh.
In Junot Díaz’ Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao , das ich kurz darauf las, wird ein viel dunkleres Bild einer unabhängigen Kindheit gezeichnet. Oscar ist ein Teenager, der anfangs von seiner Mutter gegängelt und später überwiegend sich selbst überlassen wird, sodass er sich auf den Straßen von Newark behaupten muss. Die Kinder in den Ransome-Büchern haben immer das Sicherheitsnetz ihrer Familie (oder zumindest den Beistand der Köchin), aber Oscar ist allein. Sein Vater ist vor Jahren verschwunden, und seine Mutter verständigt sich mit Oscar und seiner Schwester nur über Drohungen und im Zorn. »Es war ihre Pflicht, mich
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