Tolstoi Und Der Lila Sessel
lieferte eine andere Erklärung. »Eure Mutter spinnt.«
»Das stimmt alles«, sagte ich, »und ich wollte ein schattiges Plätzchen auf der Terasse haben.«
Im Schatten dieses Baumes las ich Francine du Plessix Grays Biografie Madame Staël: The First Modern Woman . So wie ich und wie die meisten Mütter war auch die Mutter von Madame de Staël fest entschlossen, ihrem Kind eine gute und richtige Erziehung angedeihen zu lassen. Ich selbst richtete mich nach meiner eigenen Mutter und nach den Müttern in Büchern, die mir gefallen hatten, wie zum Beispiel Geraldine Colshare in Laurie Colwins Buch Goodbye Without Leaving .
Zu Geraldine empfand ich eine gewisse Affinität. Sie war Backgroundsängerin und Tänzerin in einem Bluesduo gewesen, etwas, wovon ich immer geträumt hatte. Nachdem sie geheiratet und ein Kind bekommen hat, möchte sie am liebsten die ganze Zeit bei Little Franklin sein, ihrem Sohn: »Er lag schlafend in meinen Armen und hatte keine Ahnung, dass die Person, die ihn hielt, weder Arbeit noch einen Beruf hatte und eigentlich nicht mehr in diese Zeit gehörte. Little Franklin kümmerte das natürlich gar nicht und mich eigentlich auch nicht. Ich hatte einen Zweck im Leben: Ich wollte in einem Schaukelstuhl sitzen, gedankenlos mein Baby betrachten und es dabei stillen und wiegen und mit ihm Bäuerchen machen.«
Ja, genauso war es mir ergangen, als die Jungen klein waren. Vielleicht suchte ich in Büchern weniger eine Anleitung, wie ich Mutter sein konnte, als vielmehr eine Bestätigung meiner Art, Mutter zu sein. So oder so, wenn Geraldine erklärt, dass Mutter zu sein so ähnlich ist, wie in einer Band zu spielen – »man ist dauernd müde und muss viel singen. Außerdem ist man ständig auf den Beinen« –, fühlte ich mich noch besser als die Mutter, die ich war, und ich sang noch lauter.
Auch die Mutter von Madame de Staël stützte sich in der Frage der Erziehung ihrer Tochter auf Bücher und wandte sich den Schriften von Jean-Jacques Rousseau zu, insbesondere seinem Roman Émile , um ihrer Tochter den Weg in ein erfüllendes Leben zu zeigen. In ihrer Biografie behauptet Gray, die Mutter der Madame de Staël habe Rousseaus Anweisungen völlig missverstanden, aber nun ja. Als ihre Tochter die Kindheit hinter sich ließ, besaß sie ein beträchtliches Maß an Schlagfertigkeit und Intelligenz sowie ausgeprägten Ehrgeiz und vor allem große Begeisterungsfähigkeit.
Später schrieb Madame de Staël in einem Brief: »Begeisterung ist die Regung, die uns das größte Glück bereitet, die einzige, die ein Glücksgefühl in uns auslöst.« In meinen Kindern habe ich ebenfalls uneingeschränkte Freude und Neugier für das zu wecken versucht, was um sie herum geschieht. Denn was ist schließlich Neugier anderes als die Begeisterung, zu lernen und zu wissen?
Anne-Marie hatte grenzenlose Energie und ein unerschöpfliches Interesse an neuen Ideen und neuen Sichtweisen. Diese Begeisterungsfähigkeit trieb sie bei ihrer Arbeit und in ihren Beziehungen an, auch wenn die Kehrseite – ihre Art, mit unverhohlener Langeweile auf alte Sprüche und abgegriffene Themen zu reagieren – das Zusammensein mit ihr manchmal schwierig machte. Mehr als einmal habe ich erlebt, wie sie in Gesellschaft vom Tisch aufstand und sich auf die Suche nach interessanteren Gesprächspartnern machte. Wer sie gut kannte, verstand das Signal: Wechselt das Thema, sonst … Ein neues Thema zu finden war nicht schwierig. Anne-Marie war immer bereit, neue Ideen aufzugreifen, sich dafür zu begeistern, und kehrte gern an den Tisch zurück. Ich wünsche mir, dass meine Kinder sich in Gesellschaft diplomatischer verhalten, aber dass sie immer, so wie ihre Tante und so wie Madame de Staël, für neue Ideen, Ansichten und Ziele offen sind.
Außerdem möchte ich, dass meine Kinder für alles, was das Leben zu bieten hat, dankbar sind. In Mary Yukari Waters’ Buch The Laws of Evening fand ich wunderbare Schilderungen solcher Dankbarkeit. Die Geschichten in dem Buch spielen größtenteils in Japan, in der Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis in die Nachkriegsjahre. Waters’ Charaktere haben den Tod in familiären (Kinder, Vater, Mutter, Ehepartner) und in nationalen (die Schrecken von Hiroshima) Zusammenhängen erlebt. Keine ihrer Figuren hat Angst vor dem Tod, aber jede reagiert anders, mit ganz eigenen Erwartungen, einer eigenen Form des Bedauerns oder Hinnehmens: »Und sie war demjenigen dankbar, der dieses Hinweisschild
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