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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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ihre Freundlichkeit denke, und ich finde Mut für den kommenden und jeden weiteren Tag. Wo Erinnerungen sind, gibt es keine Leere. Wenn ich einmal tot bin, werden sich Menschen an mich erinnern und mich so zu sich zurückholen. Vielleicht bin ich dann ein Geist, schwebe im Äther, besuche meine Kinder und wecke in ihnen Erinnerungen an mich (ein ganzes Jahr lang hat sie ein Buch am Tag gelesen – verrückt!) , vielleicht aber auch nicht. Und wenn dort draußen wirklich ein Mann mit einer Pistole darauf wartet, mein Leben zu beenden und mich für immer von den Büchern auf dem Regal fernzuhalten, so bin ich im Moment doch in Sicherheit. Ich habe den lila Sessel vor ihn gestellt, mit dem Rücken zu seinem stechenden Blick. Ich sitze und lese und sättige mich an Büchern. Und ich erinnere mich. Und so erhalte ich mich und den Menschen, der Anne-Marie war, am Leben. Es gibt nichts, wovor ich mich fürchten müsste.

16
Eine bessere Sichtweise
Wie heute, so erinnert sie sich, war es ein stiller Tag zu Hause, nur sie beide und der ganze Tag vor ihnen, und sie war so überzeugt von dem, was sie zu tun hatte: ihm alles beibringen, ihn zum Lachen bringen, ihm das Gefühl geben, dass er in Sicherheit und in guter Obhut war.
RON SUSKIND , A Hope of the Unseen
      Anfang Juni hatte George eine Aufführung mit seiner Band. Seit Monaten spielte er Tuba, und ich mochte den Klang. Sein Lehrer versicherte mir, dass Kenntnisse auf diesem unhandlichen Instrument ihm die Tore zum College öffnen würden: »Tubaspieler sind selten und werden gebraucht«, sagte er zu mir. Ich machte mir noch keine Gedanken über Georges Aufnahme ans College, und dass er ein einzigartiger Mensch war und gebraucht wurde, wusste ich bereits. Aber die tiefen Booms und Bahs , die aus seiner Tuba kamen, gefielen mir richtig gut.
    Das Konzert war der Anfang einer Reihe von Veranstaltungen zum Abschluss des Schuljahrs. Das bedeutete: Prüfungen und ein Ball für Peter; der Abgang von der Schule für George und Michael; eine Strandparty für Martin. Meine Kinder wurden größer. Diesen Sommer würde ich sie noch bei mir haben, aber unsere gemeinsamen Stunden und Tage schwanden dahin. Das Leben meiner Jungen dehnte sich aus, es erstreckte sich fort von mir, in Bereiche, zu denen ich keinen Zugang hatte. Zu denen ich nicht eingeladen war. Wo ich sie nicht beschützen konnte.
    In einer von Greg Bottoms Kurzgeschichten aus Fight Scenes , die ich Anfang Juni las, kommt eine furchterregende Szene vor von einem Jungen, der ein Foto von sich selbst schießt und seiner Mutter auf den Kühlschrank in der Küche legt. Sein Freund sagt dazu: »Wenn eine Mutter eine Vorstellung davon hätte, wie das Leben ihres Sohnes wirklich aussieht, wenn sie seine Gedanken kennen würde und wüsste, wie er ist, könnte er sie dadurch umbringen, dass er ihr das Herz bricht.« Ich hoffte, das keins meiner Kinder ein Leben führte oder Gedanken hegte, die mir das Herz brechen könnten. Ich wollte für sie Glück und freie Luft zum Atmen, keine dunklen Nächte und düsteren Gedanken. Der Schutz, den ich ihnen jetzt noch bieten konnte, bestand in den Werten, die ich ihnen zu vermitteln versuchte, indem ich sie vorlebte und ihnen ein Beispiel gab. Doch was für Werte waren das?
    In meinem Schlafzimmer hängt ein Bild, das Peter in unserem ersten Sommer in Westport gezeichnet hat. Es trägt den Titel »Mum beim Essenmachen« und zeigt mich mit dem kleinen Martin auf dem Arm. Martin schreit aus vollem Halse, große ovale Tränen plumpsen durch das Bild. Mit der freien Hand greife ich hilflos nach einer Salatschüssel, die zu Boden poltert. Die Salatblätter taumeln in einem grünen Kranz um sie herum. Mein Mund steht weit offen, wie auf dem Bild Der Schrei von Edvard Munch, und mein Blick ist ziemlich wild. Aber trotz des zum O geformten Mundes und des wirren Blicks sehe ich glücklich aus. Leicht und barfüßig tanze ich über das weiße Blatt.
    Mein Leben war sehr lange so wie auf dem Bild: Missgeschicke, Trubel, Geschrei, aber auch Lachen, Zusammenhalt und Licht. Viel Licht!
    Das Licht leuchtet immer noch hell, wenn ich meine Kinder betrachte, aber die Zeiten, in denen wir Lego-Städte gebaut, neue Kuchenrezepte erfunden haben (jedes klebriger und süßer als das letzte) und vorm Zubettgehen laut vorgelesen haben, sind vorbei. Wir machen immer noch Wackelschokoladenpudding im Team: Einer rührt, einer gießt in die Form, einer stellt sie in den Kühlschrank, und einer (ich) räumt auf. Und

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