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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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Harrison und las The Woman Lit by Fireflies , ich las John Cheever und Lew Tolstoi und Barbara Kingsolver, ich stürzte mich in die gruseligen Thriller von Elizabeth George und die weniger gruseligen Krimis von Antonia Fraser. Dann verschlang ich Quincunx von Charles Palliser, ein Buch, das Anne-Marie mir geschenkt hatte.
    Eine Woche nach der Operation schwoll mein Bein zu der Dicke eines Baumstamms (von der Sorte Redwood) an, und der Arzt sagte, ich solle in die Notaufnahme kommen, und zwar »sofort«. Jack war geschäftlich unterwegs, und ohne Hilfe konnte ich unmöglich die fünf Stockwerke runterkommen. Also rief ich Anne-Marie an, die nur vier Blocks entfernt wohnte, und bat sie, mich abzuholen und ins Krankenhaus zu bringen.
    »Ich bin sofort da«, versprach sie.
    »Oh, Anne-Marie, noch etwas.«
    »Ja, gut, sag schon.«
    »Könntest du bei der Buchhandlung an der Ecke vorbeigehen? Sie haben die Kurzgeschichten von David Leavitt, A Place I Have Never Been , für mich bestellt.« Ich hatte das große Glück, ganz in der Nähe einer der besten unabhängigen Buchhandlungen in New York zu wohnen, deren Buchhändler mich in den vergangenen Tagen mit einem stetigen Strom von Lesematerial versorgt hatten.
    »Nina, wir müssen ins Krankenhaus! Vielleicht hast du ein Blutgerinnsel – es ist ernst.«
    »Ja, schon, aber ich brauche etwas zu lesen für die Zeit da.«
    Anne-Marie holte das Buch für mich ab, fuhr mit mir im Taxi zum NYU-Krankenhaus, und alles war in Ordnung. Mein Bein schrumpfte wieder auf seine normale Größe, das Buch wurde gelesen, ich war glücklich.
    Als zwei weitere Wochen vergangen waren und die Zeit nahte, da ich wieder zur Arbeit gehen musste, war ich weniger glücklich. Nicht, dass ich meine Arbeit nicht mochte. Damals arbeitete ich für das Natural Resources Defense Council und hatte mit Abwasserfragen zu tun, die Kollegen nannten mich »Königin der Kloake« – wie konnte man eine solche Arbeit nicht lieben? Aber mir wurde bewusst, dass meine Tage des ungestörten Lesens vorbei waren. Ich tröstete mich damit, dass ich eine lange Busfahrt vor mir hatte (ausgeschlossen, dass ich auf Krücken die Stufen zur Subway runterkam) und auf dem Weg zur und von der Arbeit lesen konnte.
    Jetzt, mit Mitte vierzig, war ich abermals in einen vom Lesen bestimmten Tagesablauf eingetaucht. Aber ich hatte das Altbewährte um eine neue Praxis erweitert. Ich schrieb über das, was ich gelesen hatte, und sprach mit jedem, der Lust dazu hatte, über die Bücher. Dadurch, dass ich meine Gedanken und Reaktionen über das, was ich gelesen hatte, mit anderen teilte, fand ich eine grundlegend neue Befriedigung in Büchern.
    Jahre zuvor, 1989, war in New Republic ein Kommentar des Autors und Kritikers Irving Howe erschienen. Howe beklagte die große Kluft zwischen dem literarischen Kritiker und der lesenden Öffentlichkeit, dem, wie er sagte, »gewöhnlichen Leser«. Er schrieb, dem Literaturkritiker sei es gleichgültig, was der gewöhnliche Leser trieb.
    Darauf schrieb ich Howe einen Brief und sagte, ich sei selbst eine gewöhnliche Leserin und kümmerte mich meinerseits nicht darum, was die Literaturkritiker trieben. Weder sie noch ihre Kritiken hätten etwas mit den Büchern zu tun, die ich las und liebte. Wann immer ich über Bücher sprach, dann nicht, um den Erzählstil oder die literarische Qualität des Textes zu erörtern. Stattdessen sei es »leichtes Geplauder, beinahe, wie wenn man sich darüber unterhält, was die Nachbarn so treiben. Wir lieben unsere Bücher und die lebensechten Menschen, die darin vorkommen.«
    In dem Brief erwähnte ich einen Film von Maurice Pialat, Loulou , in dem der junge Gérard Depardieu die Hauptrolle spielte. Loulou ist ein gut aussehender junger Draufgänger mit Motorrad, für den eine schöne Frau, gespielt von Isabelle Huppert, ihren älteren und gebildeten Geliebten verlässt. Als sie auf den Rücksitz des Motorrads springt, um mit Loulou davonzufahren, ruft der ältere Mann ihr hinterher: »Aber mit dem kannst du nicht mal über Bücher sprechen!« Worauf sie verächtlich erwidert: »Bücher lese ich, ich brauche nicht über sie zu sprechen.«
    Zu meiner Überraschung wurde mein Brief in New Republic veröffentlicht. Noch größer war meine Überraschung, als ich Irving Howe im folgenden Herbst in der Praxis meiner Physiotherapeutin begegnete. Ich war wegen meines Knies da, und er war ein alter Mann, der seine Glieder und Gelenke beweglich halten wollte. Ich stellte mich

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