Tolstoi Und Der Lila Sessel
vor.
»Kenne ich Sie?«, fragte er mich und musterte mich über den Brillenrand.
»Ich habe einen Brief über mich als gewöhnliche Leserin geschrieben, in New Republic .«
Er machte ein merkwürdiges Geräusch in der Kehle. »Dann sollten wir besser nicht über Literatur sprechen. Ich hoffe einfach, dass Sie auch weiterhin Bücher lesen.«
Damit wandte er sich wieder seinem Übungsfahrrad zu. Ich sah ihn nie wieder.
Es stimmte, dass ich meine Bücher liebte, aber es war ein Irrtum, dass ich nicht über sie zu sprechen brauchte. Ich war nicht wie die junge Frau in dem Film. Ich möchte sehr wohl über Bücher sprechen. Denn über Bücher zu sprechen gibt mir Gelegenheit, mit jedermann über alles Mögliche zu sprechen. Ob innerhalb der Familie, mit Freunden oder selbst mit Fremden, die mich über meine Website kennenlernen (und zu Freunden werden) – wenn wir über das reden, was wir lesen, besprechen wir im Grunde unser eigenes Leben, unsere Ansichten über Trauer, Treue und Verantwortung, über Geld und Religion, unsere Sorgen und Freuden, Sex und schmutzige Wäsche. Kein Thema ist tabu, solange wir es mit einem Buch, das wir gelesen haben, in Verbindung bringen können, und alle Reaktionen sind zulässig, sofern sie sich an fiktiven Charakteren und Situationen orientieren.
Am letzten Tag meines Lesejahres las ich Spooner von Pete Dexter. Der Roman erzählt die Geschichte zweier Männer, Calmer und Spooner, die über die Liebe zu einer sehr schwierigen und verbitterten Frau verbunden sind. Calmer ist schüchtern, geduldig und arbeitsam. Sein Stiefsohn Spooner ist rastlos, rücksichtslos und offenherzig. Calmer bringt Spooner bei, dass jeder Mensch einfach »Teil der Geschichte« ist, und indem Spooner seinen eigenen Part versteht, wird auch anderes für ihn verständlich: wie man arbeitet, wie man lehrt und wie man liebt. Als Spooner sich überraschend in der Rolle des Romanschreibers wiederfindet, folgt er dem Beispiel, das Calmer ihm gibt: »Es gab zwei Dinge, die Spooner über das Schreiben wusste: Das erste war, dass man nicht durchkam, wenn man nur so tat, als wäre einem etwas wichtig. Das andere war – falls es interessiert –, dass niemand wissen will, was du letzte Nacht geträumt hast.«
Sehr komisch und faszinierend und bewegend. Ich las Spooner mit Vergnügen. Aber in diesem letzten Buch fand ich auch einen Auftrag. Ich verstand, ich war »in der Welt … als Teil der Geschichte« aller um mich herum. Mein »Ein-Buch-am-Tag«-Projekt hatte nicht nur auf mein Leben eine Wirkung, sondern auch auf das Leben aller, mit denen ich das, was ich las, teilte. Ich verbreitete das Lesevergnügen um mich herum, indem ich über das Gelesene sprach, so wie Schriftsteller Glückserlebnisse schaffen, indem sie Bücher schreiben. Welch ein Geschenk, Freude und Trost und Weisheit mit anderen teilen zu können! Was immer ich mit Menschen teilte, ich fand es zunächst, indem ich mich in meinen lila Sessel setzte und ein Buch las.
Doch noch eine weitere Lektion wartete darauf, gelernt zu werden, und noch ein Teil der Geschichte musste erzählt werden.
21
Tolstoi in meinem lila Sessel
Es ereigneten sich Dinge, die ernster waren als alles, was Menschen sehen können.
LEW TOLSTOI , Der gefälschte Coupon
Mein Vater verbrachte zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in einem Sanatorium. Er war vierundzwanzig, als er reinkam, und sechsundzwanzig, als er entlassen wurde. Während er in Regensburg lebte und studierte, hatte er ein Stipendium für einen Studienplatz an der Medizinischen Fakultät der Universität Löwen in Belgien bekommen. Bei der Immatrikulation mussten sich alle Studenten einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Die Röntgenbilder zeigten Punkte auf den Lungen meines Vaters, ein deutlicher Hinweis auf Tuberkulose. Er hatte sich die Krankheit im Krieg zugezogen, wahrscheinlich, als er in Süddeutschland in einem Flüchtlingslager lebte. Die Ärzte in Belgien erklärten, sie würden ihn aus der schlechten Luft Löwens in die gesunde Bergluft von Eupen schicken. Das Medizinstudium müsste warten.
Eupen war ein idyllisches Städtchen inmitten von Wiesen und Wäldern nahe der deutsch-belgischen Grenze. Das Sanatorium war ein großes Steinhaus oben auf einer Bergkuppe mit Blick über die Hügel und Täler der Umgebung. Die ersten beiden Monate musste mein Vater im Bett verbringen, in einem Zimmer, das er mit einem anderen Patienten teilte. Als es ihm ein bisschen besser ging, konnte er sich in
Weitere Kostenlose Bücher