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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ist in Glaubensdingen nicht die Lehre wichtig, sondern die Hoffnung auf Erlösung. Die alten Religionen, mögen sie auch von Viehzüchtern erfunden sein, geben einem diese Hoffnung. Der Mensch glaubt an einen Schöpfer, der ihn richten und ihn anschließend ins ewige Leben aufnehmen wird. Und wer weiß, vielleicht kann einem dieser naive Glaube im Jenseits tatsächlich helfen. Aber welchen Seelentrost spendet die Vielgötterei, zu der sich Ihr Gemahl bekannte?«
    Die Fürstin Tarakanowa schloss die Augen, als wolle sie sich auf etwas besinnen.
    »Der verstorbene Fürst hat auch dazu etwas gesagt«, bemerkte sie. »Die Götter erschaffen uns nicht getrennt von sich selbst. Sie spielen nur abwechselnd unsere Rolle, wie verschiedene Schauspieler, die in ein und demselben Kostüm auf die Bühne kommen. Das, was man als ›Mensch‹ bezeichnet, ist lediglich unser Bühnenkostüm. Die Krone von König Lear, die ohne den Schauspieler, der sie trägt, nur ein Blechreifen ist …«
    »Die Erlösung der Seele kümmert Sie offenbar nicht?«
    Die Fürstin lächelte traurig.
    »Von der Erlösung der Seele, Graf, kann man nur in den Momenten sprechen, in denen ein Wesen, das diese Frage umtreibt, unsere Rolle spielt. In anderen Momenten trinken wir Wein, wir spielen Karten, schreiben törichte Verse, sündigen, und so vergeht das Leben. Wir sind lediglich ein Torweg, durch den ein Reigen von Leidenschaften und Situationen zieht.«
    »Ist denn der Mensch in der Lage, mit den Kräften, die ihn erzeugen, Kontakt aufzunehmen?«, fragte T. »Kann er mit den Göttern, die ihn erschaffen, kommunizieren?«
    »Warum nicht? Aber nur dann, wenn ihn Götter erschaffen, die kommunikativ sind. Die gerne mit sich selbst reden. Wissen Sie, so wie kleine Mädchen, die mit ihren Puppen sprechen und sie durch ihre Fantasie lebendig werden lassen … Warum sind Sie so blass geworden? Ist Ihnen zu heiß?«
    Aber T. hatte sich schon wieder gefangen.
    »Jetzt verstehe ich«, sagte er. »Aber das ist doch … Das ist ein vollkommen aussichtsloser Blick auf die Dinge.«
    »Warum das denn? Das Wesen, das Ihnen Leben gibt, kann durchaus voller Zuversicht sein.«
    »Aber was ist mit der Erlösung?«
    »Was genau wollen Sie denn erlösen? Die Krone von König Lear? Sie alleine spürt nichts, sie ist nur ein Teil der Requisite. Die Frage der Erlösung wird in der Vielgötterei dadurch entschieden, dass man sich der Tatsache bewusst ist, dass die Schauspieler im Anschluss an die Vorstellung nach Hause gehen und die Krone an der Garderobe aufhängen …«
    »Aber wir alle«, sagte T., »haben doch eine dauernde, ununterbrochene Wahrnehmung unserer selbst. Ich habe die Empfindung dessen, dass ich ich bin. Oder etwa nicht?«
    »Darüber hat der Fürst auch viel nachgedacht«, erwiderte die Fürstin. »Die Wahrnehmung, von der Sie sprechen, ist bei allen Menschen dieselbe und im Grunde nur ein Echo der Körperlichkeit, das sich in allen lebenden Wesen findet. Wenn ein Schauspieler eine Krone aufsetzt, schiebt sich ein Metallreifen über seinen Kopf. Den König Lear können verschiedene Schauspieler spielen, und sie alle werden einen kühlen Metallreifen auf dem Kopf tragen und ein und dasselbe empfinden. Aber man darf daraus nicht schließen, dass dieser Metallreifen ein wichtiger Beteiligter in einem Mysterienspiel ist …«
    T. blickte zu der Platte mit dem enthaupteten Drachen hinüber und verspürte mit einem Mal eine unüberwindliche Schläfrigkeit. Er war kurz davor einzunicken und murmelte:
    »Offenbar kannte Ihr verstorbener Gatte alle Geheimnisse der Welt. Hat er nicht zufällig mit Ihnen auch über Optina Pustyn gesprochen?«
    Die Fürstin runzelte die Stirn.
    »Optina Pustyn? Ich glaube, das hat irgendetwas mit Zigeunern zu tun. Eine Wagenburg vielleicht oder der Ort, wo ihre Vorfahren herkommen, genau weiß ich das nicht mehr. Nicht weit von hier am Ufer gibt es ein Zigeunerlager, da können wir kurz anlegen und Erkundigungen einholen … Aber mir scheint, Sie schlafen ein?«
    »Verzeihen Sie, Fürstin. Ich bin zugegebenermaßen sehr müde. Gleich bin ich …«
    »Keine Sorge. Sie können sich hier ausruhen. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen, aber ich bin sofort wieder da. Sollten Sie einen Diener benötigen – Luzius wartet gleich hinter der Tür an Deck.«
    Die Fürstin erhob sich von ihrer Lagerstatt.
    »Bleiben Sie liegen, ich bitte Sie«, sagte sie und kam auf T. zu. »Solange Sie noch wach sind, will ich Ihnen ein kleines Geschenk

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