Tolstois Albtraum - Roman
I
Als die Strecke bergan ging, verlor die altersschwache Lok an Fahrt. Das kam gerade rechtzeitig – vor dem Fenster tat sich ein Panorama von außerordentlicher Schönheit auf, und die beiden Passagiere im Abteil, die eben ihren Tee ausgetrunken hatten, vertieften sich ausgiebig in diesen Anblick.
Auf der Kuppe eines hohen Hügels leuchtete weiß ein Adelsgut, offensichtlich erbaut von einem verschwenderischen Tollkopf.
Das Gebäude war von einer sonderbaren Schönheit: Es sah aus wie eine Elfenbehausung oder wie das Schloss eines Mönchsritters. Die weißen Turmspitzen, die spitzbogigen Fenster, die luftigen Marmorpavillons, die sich zwischen den bizarr gestutzten Sträuchern im Park erhoben – all das wirkte vollkommen irreal in der endlosen russischen Weite, zwischen den grauen Bauernkaten, den windschiefen Zäunen und den Vogelscheuchen, die in den Gemüsegärten aufragten und aussahen wie Kreuze mit den sterblichen Überresten von schon zu römischer Zeit gekreuzigten Sklaven.
Ungewöhnlicher noch als das weiße Schloss sah indes der Ackersmann aus, der am Hang hinter dem Pflug herging: ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Bart, von mächtiger Statur, angetan mit einem langen Hemd. Er hatte bloße Füße, die Hände lagen auf den Griffen des hölzernen Pflugs, den ein Kaltblüter hinter sich herzog.
»Finden Sie nicht, Euer Ehrwürden, dass dieses Bild etwas Biblisches hat?«
Die Frage kam von dem Passagier mit dem buschigen rötlichen Schnurrbart, der einen braun karierten Zweiteiler und eine ebensolche Schirmmütze trug. Sie war an den jungen Geistlichen gerichtet, der ihm in schwarzem Klobuk 2 und dunkelvioletter Kutte gegenübersaß.
Der Geistliche, der von der Gestalt und vom Bart her eine große Ähnlichkeit mit dem Ackersmann aufwies, wandte sich vom Fenster ab und fragte mit einem liebenswürdigen Lächeln:
»Und was genau finden Sie daran biblisch, mein Herr?«
Der Herr mit der karierten Schirmmütze wurde leicht verlegen.
»Etwas Ursprüngliches, Erhabenes ist vielleicht besser gesagt«, versetzte er. »Die Bibel hat, wie wir wissen, ebenfalls einen Bezug zum Ursprünglichen und Erhabenen. In einem vergleichenden Sinne. Entschuldigen Sie, wenn ich mich unpassend ausgedrückt habe.«
»Aber ich bitte Sie!«, antwortete der Geistliche. »Seien Sie doch nicht so apologetisch.«
»Verzeihung, wie?«
»Apologetisch, zu überflüssigen Entschuldigungen neigend. Laien bemühen sich im Gespräch mit einem Priester immer, etwas Geistiges anzusprechen. Daran ist nichts Verwerfliches, im Gegenteil – es ist erfreulich, dass wir allein durch unseren Anblick die Gedanken auf erhabene Themen zu lenken imstande sind …«
»Knopf«, sagte der karierte Herr. »Ardalion Knopf, Eisenwarenhandel. Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Und Sie sind Vater Paissi, so viel ich weiß.«
Der Geistliche neigte den schwarzen Klobuk.
Knopf wandte sich wieder zum Fenster. Das Gut und der Ackersmann waren noch immer zu sehen.
»Wissen Sie, was das für ein mysteriöses Schloss auf dem Hügel ist, Vater Paissi? Das ist Jasnaja Poljana, das Gut von Graf T.«
Er sprach es so aus: »… von Graf Täh.«
»Tatsächlich?«, bemerkte der Geistliche höflich, aber ohne sonderliches Interesse. »Was für ein seltsamer Name.«
»Der Graf wird wegen der Zeitungsleute so genannt«, erläuterte Knopf. »Wenn die Zeitungen von seinen Abenteuern berichten, nennen sie niemals seinen richtigen Namen, um nicht der Verleumdung beschuldigt zu werden. Deshalb hat er diesen Beinamen.«
»Wie romantisch«, lächelte der Geistliche.
»Ja. Und da am Hang hinter dem Pflug geht Graf T. selbst, nehme ich an. Das ist sein Morgenspaziergang. Ein großer Mann.«
Vater Paissi machte eine höfliche Geste mit den Schultern, er schien gleichzeitig ratlos die Achseln zu zucken und seinem Gesprächspartner zuzustimmen.
»Wieso auch nicht?«, versetzte er. »Ein paar Stunden bäuerlicher Arbeit können auch einem Grafen nicht schaden.«
»Ich gestatte mir die Frage«, sagte Knopf schnell, als habe er nur auf diesen Augenblick gewartet, »wie stehen Sie zur Exkommunikation des Grafen T., Euer Ehrwürden?«
Der Geistliche wurde ernst.
»Eine äußerst tragische Sache«, bemerkte er leise. »Was kann schmerzlicher sein als die Verbannung aus dem Schoß der Kirche? Aber der Grund für diese Maßnahme sind offenbar die sündigen, unzüchtigen Taten des Grafen. Die mir im Übrigen nicht zur Gänze bekannt sind.«
»Unzüchtige
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